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Über den Geschmack von Sir Jack Pitman läßt sich streiten,
aber es besteht kein Zweifel daran, daß er weltweit einer der gerissensten
Unternehmer ist. Sein letzter Coup ist der Kauf der Isle of Wight, auf
der er das alte England historisch getreu im Maßstab 1:2 nachgestalten
läßt. Ob Harrods, Lady Di's Grab oder Buckingham Palace: Alles
ist nun ohne große Wege höchst touristenfreundlich aneinandergereiht.
Die Königsfamilie zieht um, und die Insel erklärt seine Unabhängigkeit
vom Mutterland. Doch bald gibt es Probleme. Zuerst verliert Sir Jack seine
Vormachtstellung an Martha Cochrane, der von ihm zuvor bestallten Zynikerin
vom Dienst, und dann beginnt auch noch eine schleichende Überidentifizierung
der Schauspieler mit ihren Rollen. "Robin Hood und seine fröhliche
Schar" proben ungeplante Aufstände, bärbeißige Originale
verlieren jeden Respekt vor den Besuchern. Und das echte England? Die einstige
Großmacht Europas muß sich, nach und nach politisch völlig
isoliert, ins vorindustrielle Zeitalter zurückgeworfen sehen.
Julian Barnes hat mit seinem neuen Roman "England, England" eine sehr
gewagte Gratwanderung riskiert - und ist nicht abgestürzt. Seine satirischen
Rückblicke und Prognosen reizen nicht nur das Zwerchfell, sondern
mit durchaus ernstgemeinten philosophischen Erwägungen auch den Intellekt.
Abgesehen von einer unnötig verquasten Hürde am Anfang, die zehn
Seiten lang Marthas frühkindliche Erinnerungen schildert, ziehen einen
das Gegenüber schwärzesten Humors und liebevoll, detailgenauer
Betrachtungen bis zum Ende in den Bann. Ohne je ins "Menscheln"
zu geraten, wird hier ein Heimatland in die Pfanne gehauen und zugleich
um Verständnis für jedwedes "Tatmotiv" sowie um den Zweifel
an jedweder Realität geworben. Selten brillant, wie hier das Spannungsgefälle
zwischen Komik und Tragik nicht nur einige Gags, sondern einen ganzen Roman
auszufüllen vermag.