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Der-über-den-Wolken-wohnt sucht sich ein dummes, ängstliches Kaninchen aus, um einen großen Plan zu verwirklichen. Im Land-auf-der-anderen-Seite hat nämlich der böse Evil beinahe schon alles und jeden seinem bösen Willen unterworfen. Das Kaninchen soll nun einen 'kühnen Kämpfer' finden, der dank eines Zauberspiegels zu denen auf der anderen Seite gelangt. Doch das Kaninchen läßt den Spiegel vor Anna fallen, einem Mädchen, das sich selbst überhaupt nicht kühn findet. Um jedoch wieder in ihre eigene Wirklichkeit zurückkehren zu können, muß sie auf der märchenhaften Spiegelseite eine gefährliche Reise antreten, die sie am Ende direkt in die Berge des Bösen führt. Und außer einem Zauberring, der auf der Reise erst wirksam wird, wenn sie alles ihr Mögliche versucht hat, darf sie Evil selbst keine andere Waffe als ihren Mut entgegensetzen.
Offensichtlich vereinigt 'Der durch den Spiegel kommt' so manch liebenswert gegen den Strich gebürstete Anleihe aus der Kinderweltliteratur. Kirsten Boie hat mit Anna nichtsdestotrotz eine völlig eigene Ich-Erzählerin entwickelt, die wie nahezu alle Zehnjährigen zum Einschlafen eines Kuscheltiers bedarf. Zwar kann sie bereits verläßlich Besorgungen erledigen, legt aber gar keinen Wert darauf, auch noch Heldentaten zu vollbringen.
Das ganz Normale ist an Anna das Besondere. Illustriert von Dorothea Göbels die Phantasie anregenden Vignetten, lautet das überzeugende Credo dieser mitreißenden Geschichte, dass niemand weder sich selbst noch andere unterschätzen sollte. Auch das ängstliche Kaninchen nicht. Und auch nicht Rajún, den Mundharmonika spielenden zweiten Begleiter Annas. Denn oft steckt da einiges im Verborgenen, was man noch gar nicht richtig zu würdigen wußte. Zum Beispiel jenes 'Trostlied', das die Mutter ihr stets vorsummte, wenn Anna vor etwas Angst hatte, und das sich nun als wertvoller Kraftspender erweist.
Derart geerdet, wächst Anna immer gerade so viel über sich hinaus, dass ihre 'Durchschnittlichkeit' noch glaubhaft bleibt und die Reise gerade deshalb zu einem fesselnden Leseabenteuer wird. Allgegenwärtige Häscher, eine Wüste, ein tiefer Abgrund mit einem reißenden Fluß, sich verändernde Wege in einem lieblichen Land und nicht zuletzt die Berge des Bösen verlangen natürlich auch nach Zusammenhalt und einem Aufeinanderachten. Ohne falsche Zugeständnisse stets genau den Ton einer zehnjährigen Erzählerin treffend, bringt Kirsten Boie märchenhafte Kräfte und den Kindern 'in echt' zugängliche Mutmach-Mittel in ein faszinierendes Gleichgewicht.
Sehr gelungen auch 'Der-über-den-Wolken-wohnt' als ein gewiß keinem zu nahe tretendes Sinnbild, das kurz zu Anfang und am Ende die Geschichte mit einem uns alle bedenkenden Dritten rahmt. Denn bei allem Mut ist das Menschenmögliche nicht der Weisheit letzter Schluß.
Weitere Besprechungen zu Werken von Kirsten Boie siehe:
Büchernachlese-Extra: Kirsten Boie