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Bei Herder wird nun ein dickleibiger Import aus Frankreich verlegt:
DIE GESCHICHTE DES CHRISTENTUMS in 14 Bänden, die vom Beginn unserer
Zeitrechnung bis zur jüngsten Gegenwart die Verbreitung und die Entwicklungen
der christlichen Kirchen unter religiösen, politischen und kulturellen
Gesichtspunkten vorstellt. Als erstes schickte der Verlag Band 6 ins Rennen,
der den Zeitraum 1274 (u.a. Zweites Konzil von Lyon) bis 1449 (u.a. Konzil
von Basel = Beendigung der Schismen) umfaßt. Damit beweist er marktstrategisches
Gespür, gewann doch das ausgehende Mittelalter in der breiten Öffentlichkeit
immer mehr an Interesse - man denke nur an den Megaseller DER NAME DER
ROSE von Umberto Eco.
Band 6 behandelt ein Zeitalter der Zerreißproben: Was bis dahin
"ehernes Gesetz" schien, wurde fragwürdig und schließlich bekämpft
- mit den unterschiedlichsten Motiven!
Profane Historie und Kirchengeschichte sind nahezu deckungsgleich,
denn die Kirchen haben Teil an den Kämpfen (und Kriegen) um die Vormachtstellung
in Europa und anderswo. Daraus ergaben sich auch interne Absplitterungen
und Fraktionenbildungen bishin zu den Schismen unter dem gleichzeitigen
Regiment dreier Päpste. Es ist die Zeit vor der Reformation ...
In diesem Band ist der Versuch einer universalen Gesamtschau verwirklicht
worden, d.h. es werden nicht nur die Entwicklungen der römisch-katholischen
Kirche, sondern zum ersten Mal alle Formen des Christseins dieser Epoche
in einem Buch "vereint". Etwa zehn AutorInnen stellten sich die
Frage, inwieweit und mit welchem Erfolg die Christen zwischen 1274 und
der Mitte des 15.Jh. bemüht waren, UNAM, SANCTAM, CATHOLICAM, d.h.
Einheit, Heiligkeit und Allgemeinheit zu leben. Dieser Umstand ist Plus
und Minus in einem: Die unterschiedlichen Herangehensweisen der AutorInnen
verhinderte Einseitigkeiten und führt zugleich einen Ausschnitt der
Vielfalt heutiger Rezeption sinnfällig vor Augen, andererseits fehlen
die gerade für interessierte Laien nötigen Querverbindungen und
-verweise. Man muß das Buch tatsächlich von vorne nach hinten
durcharbeiten, um dann allerdings mit einem überreichen Gesamteindruck
"entlassen" zu werden. Man darf nicht ungeduldig hin und herblättern,
sondern muß sich zur Geduld ermahnen, nach dem Motto: Warte ab, das
kommt schon noch ...
Das gilt leider auch für das Gesamtregister, das erst mit Band
14 vorgelegt wird.
Dieser Band beginnt mit sechs Kapiteln, in denen das Ob und
Wie der "Einheit" vorgestellt wird: Darin werden der Aufbau
und die diversen Institutionen der römischen, der byzantinischen und
der anderen orientalischen Kirchen abgehandelt, das Schisma und die Konzilien
von 1378 - 1449, die Konzeptionen von Kirche sowie die Protest- und Häresiebewegungen
in der römischen Kirche.
Teil 2 (Heilige Kirche?) führt die unterschiedlichen Konzepte
der Glaubensvermittlung, der "Heilswege" und der Heiligungen sowie
die "Sitten und Moral" innerhalb der Kirchen vor.
Teil 3 (Katholische Kirche?) geht noch einmal besonders auf die stärkerwerden
Antipoden der Kirchen, nämlich die weltlichen Mächte ein: Kirche
contra Kaiserreich, im französischen Königreich, auf den Britischen
Inseln, in den deutschen Kirchenprovinzen, in den Mittelmeerländern,
in Mittelost- und Nordeuropa. Schließlich werden die Beziehungen
zwischen den Kirchen des Ostens und des Westens bzw. die nicht bewältigten
Probleme ihrer Vereinigung begründet und der regional unterschiedliche
Umgang mit Andersgläubigen (Araber und Juden) sowie die Kreuzzüge
und die neuaufkeimenden Missionierungsbewegungen erläutert bzw. entlarvt.
Wohlgemerkt: Diese Anthologie von Geschichtsbetrachtungen will nicht
"verreißen" im Sinne der Kriminalgeschichte eines K.H. Deschners,
sondern sie sind konstruktiv-kritisch gehalten. Ein Autor (zum Glück
nur einer, nämlich Paul Orliac) konnte sogar noch zwischen den Päpsten
des Schismas den "richtigen" benennen. Sein Beitrag stellte als einziger
auch die traurige Fortsetzung einer Geschichtsschreibung dar, die mehr
Jahresdaten als Geschichte vorzuweisen hat. Hier hätte eine ausgeklügelte,
evtl. herausnehmbare Tabelle für die Leser bessere Dienste geleistet.
Abgesehen von dieser, in Anbetracht des Umfang dieses Werkes, marginalen
Ausnahmeerscheinung kann man den AutorInnen und ihren ÜbersetzerInnen
insgesamt eine solide, kritische bis erfrischend deutliche Sprachregelung
bescheinigen (insbesondere André Vauchez und seinem Beitrag über
die Häresiebewegungen).
Zu benörgeln sind die Zeilenlänge von 85 Anschlägen,
die ein sehr konzentriertes Lesen erzwingt, die vielen, vermutlich
erst in Band 14 belegten und erklärten Fachbegriffe und der stolze
Preis dieses Buches. Es ist zwar ganz ordentlich ausgestattet mit Schwarz-weiß-Illustrationen,
Karten und einigen
Farbbildern auf Kunstdruckpapier, aber 198.-DM (ab '94 sogar 248.-)
pro Band erscheinen "etwas" zu hoch angesetzt.
Das gilt ebenfalls für den als zweiten erschienenen Band 8, der
DIE ZEIT DER KONFESSIONEN (1530-1620/30) behandelt. In diesem Band werden
nun die zahlreichen unterschiedlichen Reformationsversuche vorgestellt,
die zu jeweils eigenen Bekenntnissen geführt haben. Dabei wurde z.B.
auch auf die national unterschiedlichen Ausformungen eingegangen oder das
damalige Kirchenleben mit den allgemeinen intellektuellen Bewegungen in
Zusammenhang gebracht. Der Aufbau ist ansonsten derselbe wie in Band 6.
Für den professionell interessierten Leserkreis sind diese Kompendien
ganz bestimmt eine Fundgrube, die so manche Lücke schließen
hilft. Exakt das, was in so mancher theologischen Fachbibliothek noch gefehlt
hat.