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Kommen Kindesmißhandlungen zur Sprache, wenden sich viele entsetzt
ab: Es ist zu schrecklich! und: Bei mir könnte so etwas nie vorkommen!
und: Für diese Täter sollte vielleicht doch wieder die Todesstrafe
eingeführt werden.
Unbestritten, daß dieses Phänomen "schrecklich" ist,
aber in Kenntnis der nach Hunderttausenden zählenden Dunkelziffer
ist die Wahrscheinlichkeit doch sehr hoch, daß Kindesmißhandlungen
auch in der eigenen Familie "vorkommen" können. Abgesehen davon, daß
die Todesstrafe lediglich ein Unrecht durch einen fragwürdigen Racheakt
fortsetzen würde, kann sie niemals zu einer Problemlösung der
Opfer beitragen.
Wie aber kann nun den Opfern geholfen werden?
Stefano Cirillo und Paola di Blasio sind die Mitbegründer eines
"Zentrum(s) für das mißhandelte Kind und die Behandlung von
Familienkrisen" (ital. Kürzel: CBM), dem die Stadtgemeinde Mailand
1985 die Leitung einer Dienststelle übertrug. Das CBM wurde damit
zur ersten öffentlichen Einrichtung Italiens, die sich explizit mit
Mißhandlungsfällen befaßte. Sie war einerseits als Koordinierungsstelle
für das Aufdecken von Kindesmißhandlungen in der Familie gedacht
und andererseits als Experimentierfeld für den Einsatz von geeigneten
Interventionstechniken. Bei der Vielzahl der "Fälle" liegt
die Hauptaufgabe des CBMs vorrangig darin, anderen Fürsorgestellen
ihre Ergebnisse mittels direkter Beratung oder auf Seminaren und Symposien
zur Verfügung zu stellen, damit sie für deren Arbeit nutzbar
gemacht werden können.
Ausgehend von einem familientherapeutischen Ansatz und den damit gemachten
Erfahrungen, entwickelte das CBM nun einen systemischen Ansatz, den die
Autoren bezeichnenderweise mit FAMILIENGEWALT überschrieben. Das Team
des Zentrums ist zur Überzeugung gelangt, daß das Auftreten
von Vernachlässigung, physischer Gewaltanwendung und sexuellem Mißbrauch
ein pathologisches Phänomen ist, das die Familie in ihrer Gesamtfunktion
erfaßt. Aufgrund dieser Erkenntnis ist es das Ziel des CBMs, nicht
nur die Ursachen für den Mißbrauch zu verstehen, sondern auch
die dysfunktionalen Verhaltensmuster zu verändern, die den Nährboden
für die Gewalt darstellen, um so die Familie in die Lage zu versetzen,
ihre Erziehungsaufgabe (wieder) angemessen wahrzunehmen.
"Um die Dichotomie Familie/Individuum zu überwinden und aus
der Sackgasse herauszukommen, in die die Erklärungsversuche geraten
sind, verwenden wir seit einigen Jahren ein Modell, das auf der Spielmetapher
beruht.(..) Dieses Modell bietet die Möglichkeit, die individuelle
Ebene mit der Ebene der soziokulturellen Faktoren zu verbinden, wobei die
Beziehungsmuster des Familiensystems als Zwischenebene eingeschaltet werden.
Der Begriff des 'familiären Spiels' (..) wird zur Beschreibung
der Beziehungen benutzt, die sich mit der Zeit zwischen den Familienmitgliedern
entwickelt haben."
Es ist also eine multidimensionale Sichtweise nötig, um ein theoretisches
Konzept zu erarbeiten, damit die Interventionspraxis einer solchen Einrichtung
sinnvoll bestimmt wird.
Die größte Herausforderung besteht jedoch in einem Umstand,
der die Mehrzahl der Fälle auszeichnet: Sie werden u.a. per Gerichtsbeschluß
verordnet. Normalerweise geht jedes Therapieangebot von der Freiwilligkeit
aus. Die Arbeit des CBM erbrachte nun (unter Offenlegung der diversen Fehlschläge),
daß die Zwangssitutation auch Dynamiken in sich birgt, die zu aller
Vorteil genutzt werden können.
Der schroffe Gegensatz, den die "Zwangstherapie" in unserer
psychologischen Kultur als Widerspruch in sich bildet, kann überwunden
werden, wenn man als erstes die These in Frage stellt, "daß das
Fehlen freiwilliger Inanspruchnahme von Hilfe immer bedeutet, es sei kein
Änderungswille vorhanden."
Im ersten Kapitel wird dazu ausführlich Stellung genommen. Es
wird erläutert, warum die mißhandelnden Familien keine Hilfe
anfordern, es werden sozio-familiäre Faktoren benannt, die dem Anfordern
von Hilfe im Wege stehen sowie die "Fallstricke" des freiwilligen
Kontextes bezeichnet, wenn es in Ausnahmefällen zu freiwilligem Hilfeersuchen
kommt. Gerade den ErzieherInnen, SozialarbeiterInnen, LehrerInnen soll
dabei immer wieder deutlich gemacht werden, daß die erste Hilfe für
ein mißhandeltes Kind, die Anzeige der Mißhandlung sein muß.
Das den Gerichten nicht in die Hände spielen wollen, oder meinen,
mit einigen Gesprächen intervenieren zu können, erwies sich erfahrungsgemäß
stets zum Nachteil für die Opfer.
In Kapitel II geht es um die über den Erfolg entscheidende EINLEITUNG
DES DIAGNOSTISCHEN PROZESSES, denn "in den von uns betrachteten Fällen
stellt die psychologische Intervention und Begleitung einen Weg dar, der
jedoch erst begangen werden kann, wenn die rechtlichen Mechanismen in Gang
gesetzt sind."
Dazu gehört auch die baldige Festlegung der Aufgaben und Koordination
zwischen den zuständigen Dienststellen, um kontraproduktive Konkurrenzen
von vorneherein auszuschließen.
Es folgt DIE DIAGNOSE DER MIßHANDELNDEN FAMILIE. In diesem profunden
Kapitel werden die Rahmenbedingungen und die in diesem Zusammenhang notwendige
Definition von Diagnose dargelegt. Es folgen Beschreibungen Typischer Spiele
in mißhandelnden Familien sowie schlußendlich eine ausführliche
Darlegung von THERAPIE IM ZWANGSKONTEXT.
Dieses Buch geht von Erfahrungen aus und stellt in jedem Kapitel eine
Reihe anschaulicher Fallbeispiele vor - und es spricht selbst in den quellengenauen
theoretischen Erörterungen eine verständliche (offenbar auch
von Barbara Huter sehr gut übersetzte) Sprache. Nicht nur deshalb
sollte es zur Grundausstattung aller in sozialen Berufen tätigen sowie
aller Amtsträger der Gerichtsbarkeit gehören. Noch engagierte
Politiker sollten ebenfalls mehr als einen Blick hineinwerfen, denn sie
erhalten Argumentationshilfen, wenn mal wieder einerseits über die
zunehmende Gewalt geklagt, dann aber doch nur die Polizeikräfte verstärkt
und ansonsten zuallerst in den sozial-medizinischen Bereichen gespart werden
soll ...