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Louis Senaeve aus dem flämischen Walle lernt schon bald die Regeln eines katholischen Internats zu unterlaufen, doch gegen die Gleichgültigkeit seiner Eltern bleibt er machtlos. Vor allem seine Mutter hat alles Mögliche im Kopf, nur nicht ihn. Daran ändert auch der II. Weltkrieg nichts ...
"Der Kummer von Belgien", das kurz vor seinem Tod wieder aufgelegte, nun mit korrektem Titel und von Waltraud Hüsmert hervorragend neu übersetzte Opus Magnum von Hugo Claus, ist ein Stück Weltliteratur, obgleich sein Autor bedauerlicherweise nie über den Status eines Nobelpreiskandidaten hinausgekommen ist.
Ein "pittoresker" Roman, der bild- und dialogreich den Mikrokosmos des "verkappten" Brügge von den 1930ern bis Ende der 1940er aus Sicht des heranwachsenden Louis vorführt. Aber Louis ist nicht wie Oskar Matzerath die Karikatur eines das Wachstum einstellenden Kindes, sondern er wächst - allerdings nur sehr bedingt über sich hinaus. Das Alter Ego des Autors wird keineswegs weichgezeichnet und korrespondiert mit einer Umgebung, die Claus zeitlebens in all seinen Werken als bigott und heuchlerisch anprangert hat. Louis will nicht, aber kann oft nicht anders, als dieses Spiel bis zum Ende des Romans mitzuspielen. Da ist er ungefähr 18 Jahre alt und hat den ersten Teil des Romans unter falschen Voraussetzungen als "Novelle" bei einem Literaturwettbewerb eingereicht.
Und hier greifen denn auch weitere Unterschiede zur "Blechtrommel": Zum einen die schiere Textmenge von über 800 Seiten und dessen formale Bändigung. So durchzieht den Roman zwar ein sogkräftiger Hauptstrom des Erzählens, der aber läuft zuweilen in die Deltas von Dialogfetzen auseinander um dann erst später wieder als Strom gebündelt zu werden. Die "Deltas" mindern die Sogkraft für orts- und landesfremde Leser ungemein, und wenn sie sich nicht mit den seinerzeit spezifisch belgischen respektive wallesch-brüggeschen Verhältnissen auseinandersetzen wollen, driften sie womöglich auch gänzlich ab. Das wäre ein Eigentor, denn es lohnt sich, immer wieder aufs Neue dem Hauptstrom nachzuspüren, der sich im großen Ganzen wie im Detail als Ausbund satirischer Zuspitzung durchaus weltweit gültiger Borniertheit erweist, ohne dabei je ins mechanisch Zynische oder klischeehaft Schwarz-Weiße zu verfallen.
Gerade für uns deutsche Leser ist natürlich nicht zuletzt auch das Gespiegeltwerden als Nation und Typus von Interesse - und das wird aufs Köstlichste enttäuscht.
Alle anderen ins Deutsche übertragenen Romane von Hugo Claus sind kürzer und zumeist linear gebaut - vielleicht deshalb auch eher als Einstiegslektüre zu empfehlen, zeichnen sie sich doch wie dieses Hauptwerk durch einen galligen Humor und große Authentizität aus. Nur sollte man sich ihn demnächst zu Gemüte führen - dieser Autor verdient in jedem Fall noch ein wenig Unsterblichkeit über den eigenen Tod hinaus ...
Weitere Besprechungen zu Werken von Hugo Claus siehe:
Büchernachlese-Extra: Hugo Claus (1929 - 2008)