buechernachlese.de
|
Der italienische Pädagoge Guiseppe Flores d'Arcais wird im Klett-Cotta
Verlag mit seinem Alterswerk vorgestellt, das gleichsam ein Summarium seines
schon sehr früh entwickelten "pädagogischen Personalismus"
beinhaltet.
Mit DIE ERZIEHUNG DER PERSON legt d'Arcais den Grundstein bzw. die
Grundsteine für eine personalistische Erziehungstheorie und liefert
damit einen weiteren Anstoß für die Diskussion, inwieweit der
Disziplin Pädagogik tatsächlich im strengen Sinne Wissenschaftscharakter
zukommt oder nicht.
In vier Kapitel gegliedert setzt dieses Buch, im Gegensatz zu popularwissenschaftlichen
Einführungen, eine gewisse Fachkenntnis voraus. Der Zugang wird aber
durch die vorzügliche Übersetzung von Winfried Böhm und
den präzisen Fußnoten, die nicht erst im Anhang erlesen werden
müssen, erleichtert. Die Dominierung des pädagogisch-psychologischen
Feldes durch den anglo-amerikanischen Sprachraum wird für den Interessierten
allerdings ein Nachlesen so mancher venachlässigter italienischer
Arbeiten bedeuten, auf die reichlich hingewiesen wird.
Im ersten Kapitel, überschrieben mit HISTORISCH-KRITISCHE VORAUSSETZUNGEN,
referiert d'Arcais eben diese, wobei er neben der Bewegung um die in den
dreißiger Jahren von Emmanuel Mounier gegründete Zeitschrift
ESPRIT u.a. auf Hegel, Kierkegaad, Dostojewski, Jaspers und Satre verweist.
Die Slogans der 22 Überschriften innerhalb dieses Kapitels lauten
PERSON UND PERSONALISMUS, DER PRIMAT DER PERSON, DIE EXISTENZ ALS ENTWURF,
DIE INTENTIONALITÄT DER PERSON usw., um es schließlich mit DIE
PERSON ALS PRIMUM abzuschließen.
"Und sie ist dieses Primum, weil sie Person und nicht nur Individuum
ist."
Auf diese Grundlage, die sich durch eine große Kenntnis der verzweigtesten
Ismen zu dieser Thematik ergeben, baut das zweite Kapitel auf: DIE VIERFACHE
WURZEL.
Hierin entwickelt d'Arcais, ausgehend von dem Moment der Erfahrung,
eine sich als plastisch erweisende Figur mit den Beziehungspunkten von
INNERLICHKEIT, GESELLSCHAFTLICHKEIT, THEORIE und PRAXIS, in deren Schnitt-
bzw. Mittelpunkt stets der Mensch steht.
"Es ist die 'Person', d.h. das Menschenwesen in seiner Einzigkeit
und Einzigartigkeit, welches als ICH in Bezug zu einem DU tritt; sie bringt
theoretisch und praktisch das ES, d.h. die Kultur und die Zivilisation
hervor, indem sie sich selbst (..) kultiviert und zivilisiert."
Und diese Person, der Mensch als Ganzheit ist dem "Gesetz" der
Möglichkeit und nicht der Notwendigkeit unterworfen. Der Mensch ist
als "Gegenstand der pädagogischen Wissenschaft nicht eine RES (..),
sondern eine dynamis, ein Werden, ein Sich-Verändern, ein Sich-Verbesserndes".
Die Person, die Subjekt und Objekt zugleich ist, entzieht sich den
normalen Kriterien wissenschaftlicher Theorien, da die Erziehung in den
Bereich der Praxis fällt, "dort aber führt jede Theoriebildung
zur Formulierung eines 'praktischen Syllogismus', der - wie schon Aritoteles
mit aller Klarheit aufgezeigt hat - aus seinen Prämissen keine notwendigen
Schlußfolgerungen ziehen kann. Nur der Obersatz ist universal und
notwendig, der Untersatz dagegen ist situationsgebunden".
Nach dieser 14 punktigen Radiographie, in der nach d'Arcais die Bedingungen
der Erziehung wurzeln, folgt das dritte Kapitel: DAS BEGRÜNDENDE PRINZIP.
Hierin referiert er bzw. faßt die unterschiedlichen philosophischen
Denkansätze zusammen. Das führt u.a. zu dem "Zwischenergebnis",
nachdem es genauer wäre, "nicht von einer Philosophie oder Metaphysik
der Person zu reden, sondern von einer Philosophie dieser Person, d.h.
von einer Philosophie des konkreten existentiellen Ich HIC ET NUNC."
Und zuletzt über die innere Wertdimension der Person sagt d'Arcais:
"Sie ist keine geschlossene Monade, sondern offen für anderes und
für andere, sensibel für ein über sich Hinausgehen. Sie
ist ein existentieller 'Wandervogel', und auf ihren Wanderungen sucht sie
ihre eigene personale Identität, in die nicht nur ihr Sein, sondern
auch ihr Wert eingelagert ist."
"Das gipfelt dann in seinem Schlußkapitel", so Winfried
Böhm in seinem Vorwort, "in der Präsentation einer personalistischen
Theorie der Erziehung, die die Person zugleich als Subjekt und als Ziel
der Erziehung sehen lehrt und - obwohl das Buch einen durch und durch theoretisch-systematischen
Gedankengang verfolgt - auch zu praktischen Konsequenzen fortschreitet."
Mitreißend ist hierin u.a. die Feststellung, daß das in
vielen Gesellschaften beliebte von "außen Vorgegebene", sei
dies nun ein moralischer Wert oder ein wissenschaftlicher Be-
fund, von d'Arcais in ergreifender Präzision entkräftet wird.
"'Wissen' besteht heute viel mehr darin, die richtigen Fragen oder
Fragen richtig zu stellen." Denn Philosophieren in seiner ursprünglichen
und etymologischen Bedeutung heißt: "ein Suchen nach Wissen".
"Innerhalb der hier genannten Koordinaten ist es berechtigt, von
der Relativität wissenschaftlicher Erkenntnis und wissenschaftlichen
Wissens zu sprechen; damit meint man, daß es sich niemals um eine
endgültiges Wissen handeln kann, auch wenn es sich in geschlossener
Form und als abschließbar präsentiert."
Und darum: "...unumgänglich Pluralismus des Handelns oder,
wie man auch zu sagen pflegt, kultureller Pluralismus!"
Selbst heute wird diese Anschauung des Relativen weg vom Absoluten
noch so manchem Bauchschmerzen bereiten, dabei macht d'Arcais deutlich,
daß dieser Ansatz genau der verantwortliche Ansatz aller Wissenschaften
für die Zukunft sein sollte.
Ein klärendes, ein plausibles, ein wichtiges Buch für die
Rückgewinnung pädagogischer Reflexionen, die mehr als nur das
beliebige unterstreichen wollen.