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Anna und Lotte, Zwillingsschwestern, Jahrgang 1916, treffen sich unverhofft
im belgischen Spa. Beide sind dort zur Kur wegen ihrer arthritischen Gelenke.
Sie haben sich jahrzehntelang nicht mehr gesehen. Als kurz nacheinander
die Eltern starben, wurden die Zwillinge aufgeteilt: Die kränkliche
Lotte kam zu Verwandten nach Holland und wurde dort Teil des Widerstandes
gegen Hitler. Die robustere Anne wurde auf dem Hof des westfälischen
Großvaters als billige Arbeitskraft mißbraucht. Trotz ihres
ausgeprägten Sinnes für Gerechtigkeit muß sie sich eingestehen,
daß sie in ihrem Leben zwar durchaus Courage bewiesen, das System
des Nationalsozialismus aber noch lange nach Kriegsende nicht wirklich
durchschaut hatte. Widerwillig läßt sich Lotte auf Gespräche
ein, die die Zeit des ganzen Kuraufenthaltes beanspruchen werden. Allein
deutsch zu sprechen, fällt ihr schwer. Lange Zeit sieht sie in Annes
aufgeregten Reden lediglich billige Rechtfertigungsversuche. Daneben der
Gedanke, wäre sie damals nicht krank gewesen, hätte sie ein ähnliches
Schicksal wie Anne erleiden müssen.
Nicht umsonst wurden "Die Zwillinge" von Tessa de Loo in den Niederlanden
gleich mit zwei Preisen ausgezeichnet. Die Geschichte der Schwestern beweist
einmal mehr, daß Statistiken nur Zahlen aber keine Einzelschicksale
dokumentieren und sich darauf beziehende Vorurteile die Auseinandersetzung
mit dem Einzelnen nicht ersetzen. Tessa de Loo versteht es dank ihrer großen
Detailkenntnis, die sich abwechselnden Ein- und Ansichten in einem bedächtigen,
unaufgeregten Fluß des Auslotens zu bändigen. Dabei gewinnt
der Roman mit jeder Seite an Sogkraft, die einen bis zu der melancholisch
optimistischen Volte am Schluß nicht mehr losläßt. Den
Antagonismus der sehr authentisch wirkenden Schwestern nur auf das Verhältnis
Niederlande und Deutschland zu übertragen, wäre zu wenig. Er
reicht weit darüber hinaus.