buechernachlese.de
|
Wer kennt sie nicht, die Geschichte vom Rattenfänger, der einst
die Kinder aus Hameln führte, weil ihm der Lohn für seine Dienste
schuldig geblieben worden war. Aber handelte es sich dabei wirklich um
den überzogenen Racheakt eines Naturgeistes? Michael Ende entwickelte
aus diesem Stoff nun das Libretto zu einer Oper, die Wilfried Hiller komponiert
hat und im September '93 in Dortmund uraufgeführt werden soll. Das
Libretto kann schon jetzt nachgelesen werden - und das lohnt sich allemal!
In einer Dramaturgie, die den Totentänzen des Mittelalters nachempfunden
ist, wird das Publikum Zeuge einer noch heute gültigen Geschichte,
deren Plausibilität leider trotz ihrer daraus zu ziehenden Erkenntnisse
und Wahrheiten wohl zeitlos bleiben wird. Das Entführen der Kinder
erweist sich nämlich als Rettung vor den reichen Erwachsenen, repräsentiert
u.a. durch Bürgermeister, Kirchenfürst, Landsknecht und Kaufmann,
die den Rattenkönig anbeten und für jedes Opfer ein Goldstück
erhalten. Geopfert werden dabei Kinder, Bäume, Flüsse ... Die
anderen Erwachsenen, die Armen wehren sich nicht, können sich nicht
wehren, sind jedoch aus Sicht der Kinder ebenfalls mehr Täter als
Opfer, da sie noch nicht einmal dem Offensichtlichen Rechnung zu tragen
vermögen.
Dieser Totentanz hält uns allen den Spiegel vor, wie wir unsere
"Sachzwänge" quer durch alle Schichten mit den offenkundig seit Jahrhunderten
"gepflegten", fadenscheinigen Argumenten rechtfertigen. Die Überlieferung
der alten Legende kann demnach nur noch als bis dato geglückte Geschichtsklitterung
eingeordnet werden, wie sie noch heutigentags allenthalben versucht wird.
Die Moralität dieser Geschichte ist adäquat gesetzt und ganz
bestimmt kein zu bekritikasterndes Merkmal, noch dazu, wo sie in einen
derart fesselnden Handlungsverlauf eingebunden ist. Michael Ende hat mit
DER RATTENFÄNGER ein Volksstück im besten Sinne geschaffen. Es
ist ein Stück für unsere Zeit, für unser Land, für
Täter wie für Opfer.
Weitere Besprechungen zu Werken von Michael Ende und Sekundärliteratur dazu siehe:
Büchernachlese-Extra: Michael Ende