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Achtung! Achtung! Der lang gesuchte deutsche Roman, der tiefgründig,
kurzweilig, fesselnd, formal vollendet ist und sich zugleich durch Esprit,
Aberwitz und Selbstironie auszeichnet, wurde endlich vorgelegt!
Sein Titel: "SCHUSSFAHRT", sein Autor: Gerd Fuchs.
Bruno und Theo sind Brüder. "Ich war drei, als Bruno unterwegs
war. Manchmal horchte ich an Mathildes Bauch. Er schläft, sagte sie.
Sie log. Er hatte sich bewegt da drin. Er hatte nach mir getreten. Komm
raus, flüsterte ich. Ich mach dich fertig. Und wann kommt mein Brüderchen
endlich, fragte ich scheinheilig."
Ihr Vater ist Siggi, einst erfolgloser Inhaber eines Fotoladens, später
PG der Nazis und Oberleutnant der Wehrmacht, noch später, nach dem
Krieg, sprachunfähiger aber potentgebliebener Invalide, der als über
60-jähriger bei einem Besuch in Ost-Berlin ein weiteres Kind gezeugt
hatte - von dem die Brüder aber erst nach Siggis Tod mit über
90 erfahren. Ihre Mutter ist Mathilde, frühverstorbene Inhaberin eines
Schuhladens, der die eigentliche, lange Zeit schmale Existenzgrundlage
dieser Familie bilden sollte.
Als Boris, der in Ost-Berlin gezeugte Stiefbruder, überraschend
zur Beerdigung des Vaters auftaucht, versucht Theo ihm ein Bild dieses
Vaters zu zeichnen, was aber nicht geht, ohne die Umstände von damals
im Hunsrück zu beschreiben und ebenfalls nicht, ohne die "Geschichten"
zu erzählen, die dieser Vater nicht nur bei seiner Frau und den ehelichen
Söhnen ausgelöst hatte. Er setzt im Jahre 1961 ein: "Das Loch
war zu. Im August war die Mauer gebaut worden. Der Durchzug hörte
auf. Es wurde gemütlich. Wir schielten nicht mehr nach Westen, wir
waren der Westen." Wesentlich aber war Brunos Rückkehr in jenem
Jahre. Mit einem fiesen Trick halste ihm nun Theo den Schuhladen auf. Dazu
muß man sagen, daß Bruno ihm 15 Jahre zuvor den mütterlichen
Schuhladen samt miefig dörflicher Enge ebenfalls mit einem fiesen
Trick aufgehalst hatte. Aus Bruno dem reisenden Dichter wurde nun ein unfreiwillig
erfolgreicher Geschäftsmann, aus Theo ein Abenteurer, der sich plötzlich
in der Auseinandersetzung mit Mafiosis und ihren Geliebten wiederfand.
Eine Runde weiter dreht sich wieder das Karussell: Theo muß erneut
den Laden übernehmen, während Bruno an der Peripherie der RAF
und nach einer kurzen Terroristenverfolgung wie "bei Dick und Doof"
schließlich für zwei Jahre im Gefängnis landet - nicht
zuletzt weil ihn Theo bei der Polizei verraten hatte ...
Theos Erläuterungen sind ein erfrischend schadenfroher und zugleich
wehmütiger Abgesang auf eine Figur aus den sechzigern, die schließlich
Ende der siebziger Jahre über die Alpen verschwand und seither nicht
mehr gesehen ward: der Sohn der Naziväter, der "ewige" Revoluzzer.
Diesen Rahmen füllte Gerd Fuchs scheinbar aus dem Handgelenk mit einer
Unzahl von Ideen und authentischen Details. Da wird nichts in die Länge
gezogen, aber auch nichts unnötig vollgestopft. Mittendrin meint man
immer wieder, jetzt muß ihm doch langsam die Luft ausgehen, aber
nein, kaum hat man gerade gefeixt, muß man 2 Seiten später schon
wieder "tief betroffen" auflachen. Das liegt natürlich auch
an seinem Umgang mit Sprache. Mal fliegen einem im Stakkato kurze Sätze
um die Ohren, dann aber vermag er auch das Tempo zu drosseln, z.B. als
Theo zwei alten Frauen ihr Geschäft abkaufte, um zu expandieren, waren
diese hingegeben "..dem Rauschen der Zeit. Ich wußte keinen anderen
Ort, wo es zu hören gewesen wäre als in dieser kleinen, mit altem
Mahagoni vollgestellten Wohnung, bei diesen freundlichen, weißhaarigen
Frauen. Ein feines, stetiges Rauschen, das ihre brüchigen, sanften
Stimmen nicht unterbrachen, dem sie sich beimischten als ein freundliches,
ebenso gleichmäßiges Geräusch."
Darüberhinaus ist der Roman auch formal ein Genuß, läßt
Fuchs seinen Theo doch konsequent, aber nicht aufdringlich im Ziehharmonika-Zickzack
erzählen, so daß das Hier und Jetzt mit der Vergangenheit eine
Gerade bildet, wie sie auch im wirklichen Leben im Nebeneinander von Gedanken
und Handlungen gezogen wird. Bleibt nur noch zu erwähnen, daß
dieser Roman vom Deutschen Literaturfonds gefördert wurde, was ihm
zur größten Ehre gereicht und die Sinnfälligkeit dieser
Einrichtung überzeugend unterstreicht.