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Gerd Fuchs

Schußfahrt

Roman. Hoffmann & Campe Verlag, Hamburg 1995, 287 S., ISBN: 3-455-02272-3, >>> Amazon
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Achtung! Achtung! Der lang gesuchte deutsche Roman, der tiefgründig, kurzweilig, fesselnd, formal vollendet ist und sich zugleich durch Esprit, Aberwitz und Selbstironie auszeichnet, wurde endlich vorgelegt!
Sein Titel: "SCHUSSFAHRT", sein Autor: Gerd Fuchs.
Bruno und Theo sind Brüder. "Ich war drei, als Bruno unterwegs war. Manchmal horchte ich an Mathildes Bauch. Er schläft, sagte sie. Sie log. Er hatte sich bewegt da drin. Er hatte nach mir getreten. Komm raus, flüsterte ich. Ich mach dich fertig. Und wann kommt mein Brüderchen endlich, fragte ich scheinheilig."
Ihr Vater ist Siggi, einst erfolgloser Inhaber eines Fotoladens, später PG der Nazis und Oberleutnant der Wehrmacht, noch später, nach dem Krieg, sprachunfähiger aber potentgebliebener Invalide, der als über 60-jähriger bei einem Besuch in Ost-Berlin ein weiteres Kind gezeugt hatte - von dem die Brüder aber erst nach Siggis Tod mit über 90 erfahren. Ihre Mutter ist Mathilde, frühverstorbene Inhaberin eines Schuhladens, der die eigentliche, lange Zeit schmale Existenzgrundlage dieser Familie bilden sollte.
Als Boris, der in Ost-Berlin gezeugte Stiefbruder, überraschend zur Beerdigung des Vaters auftaucht, versucht Theo ihm ein Bild dieses Vaters zu zeichnen, was aber nicht geht, ohne die Umstände von damals im Hunsrück zu beschreiben und ebenfalls nicht, ohne die "Geschichten" zu erzählen, die dieser Vater nicht nur bei seiner Frau und den ehelichen Söhnen ausgelöst hatte. Er setzt im Jahre 1961 ein: "Das Loch war zu. Im August war die Mauer gebaut worden. Der Durchzug hörte auf. Es wurde gemütlich. Wir schielten nicht mehr nach Westen, wir waren der Westen." Wesentlich aber war Brunos Rückkehr in jenem Jahre. Mit einem fiesen Trick halste ihm nun Theo den Schuhladen auf. Dazu muß man sagen, daß Bruno ihm 15 Jahre zuvor den mütterlichen Schuhladen samt miefig dörflicher Enge ebenfalls mit einem fiesen Trick aufgehalst hatte. Aus Bruno dem reisenden Dichter wurde nun ein unfreiwillig erfolgreicher Geschäftsmann, aus Theo ein Abenteurer, der sich plötzlich in der Auseinandersetzung mit Mafiosis und ihren Geliebten wiederfand. Eine Runde weiter dreht sich wieder das Karussell: Theo muß erneut den Laden übernehmen, während Bruno an der Peripherie der RAF und nach einer kurzen Terroristenverfolgung wie "bei Dick und Doof" schließlich für zwei Jahre im Gefängnis landet - nicht zuletzt weil ihn Theo bei der Polizei verraten hatte ...
Theos Erläuterungen sind ein erfrischend schadenfroher und zugleich wehmütiger Abgesang auf eine Figur aus den sechzigern, die schließlich Ende der siebziger Jahre über die Alpen verschwand und seither nicht mehr gesehen ward: der Sohn der Naziväter, der "ewige" Revoluzzer. Diesen Rahmen füllte Gerd Fuchs scheinbar aus dem Handgelenk mit einer Unzahl von Ideen und authentischen Details. Da wird nichts in die Länge gezogen, aber auch nichts unnötig vollgestopft. Mittendrin meint man immer wieder, jetzt muß ihm doch langsam die Luft ausgehen, aber nein, kaum hat man gerade gefeixt, muß man 2 Seiten später schon wieder "tief betroffen" auflachen. Das liegt natürlich auch an seinem Umgang mit Sprache. Mal fliegen einem im Stakkato kurze Sätze um die Ohren, dann aber vermag er auch das Tempo zu drosseln, z.B. als Theo zwei alten Frauen ihr Geschäft abkaufte, um zu expandieren, waren diese hingegeben "..dem Rauschen der Zeit. Ich wußte keinen anderen Ort, wo es zu hören gewesen wäre als in dieser kleinen, mit altem Mahagoni vollgestellten Wohnung, bei diesen freundlichen, weißhaarigen Frauen. Ein feines, stetiges Rauschen, das ihre brüchigen, sanften Stimmen nicht unterbrachen, dem sie sich beimischten als ein freundliches, ebenso gleichmäßiges Geräusch."
Darüberhinaus ist der Roman auch formal ein Genuß, läßt Fuchs seinen Theo doch konsequent, aber nicht aufdringlich im Ziehharmonika-Zickzack erzählen, so daß das Hier und Jetzt mit der Vergangenheit eine Gerade bildet, wie sie auch im wirklichen Leben im Nebeneinander von Gedanken und Handlungen gezogen wird. Bleibt nur noch zu erwähnen, daß dieser Roman vom Deutschen Literaturfonds gefördert wurde, was ihm zur größten Ehre gereicht und die Sinnfälligkeit dieser Einrichtung überzeugend unterstreicht.

Buechernachlese © Ulrich Karger


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