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Cornelia Funke

Die Brücke hinter den Sternen

Bilderbuch mit Illustrationen der Autorin. Dressler Verlag, Hamburg 2021. 30 Seiten. 15,00 Euro. Ab 5 Jahre. ISBN: 978-3-7513-0003-2, >>> Amazon
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Alle sagen, der kleine Engel Barnabel sei zu jung, nicht stark genug und wüsste nicht genug über die "Dunklen Dinge". Mindestens 200 Jahre müsse er noch warten, bis er auf die von einem Drachen bewachte Brücke hinter den Sternen darf. Dabei ist er schon 3022! An seinem 3023. Geburtstag beschließt er, zu dem Drachen Tianlong zu fliegen, um ihn um Zutritt zu bitten - doch auch der Drache zählt erst mal auf, warum ein Engel wie er, der aus reinem Licht besteht und nichts wiegt, nicht auf die Brücke darf. Denn für die Menschen, die schweren Herzens über die Brücke in den Tod gehen, könnte er so kein Halt sein. Aber Barnabel wusste von einem Engel, der schon tausende Male über die Brücke geflogen war. Bairim lebte in dem Tal, in dem das Licht schäumend wie Wasser aus den Nachtbergen drang und einen See bildete. Als Bairim nun von Barnabel gefragt wurde, lachte er und antwortete, dass er selbst Barnabel einst über die Brücke geholt habe. "Du warst noch sehr jung, selbst für ein Menschenkind, und trotzdem wusstest so viel, dass dein Herz selbst für mich fast zu schwer war." Deshalb hat Bairim einiges von dem, was Barnabels Herz schwer machte von der Brücke geworfen und nur die wichtigsten Dinge mitgenommen. Und als Barnabel dann fragte, wo diese Dinge jetzt sind, flog Bairim mit Barnabel zu einem Wald. Die Bäume darin waren voller schwarzer Früchte, und Bairim zeigte ihm dann seinen Baum. Und als Barnabel von dessen Früchten aß, erinnerte er sich an die Dunklen Dinge wie Schmerz und vor allem Angst. Als Bairim ihn fragte, ob er immer noch auf die Brücke wolle, nickte Barnabel. Und auf seine Frage "Was ist der Tod?" antwortete Bairim, "So nennen die Menschen die Brücke", und dass sie sich vor ihr fürchten und die Engel ihnen deshalb entgegenfliegen.
Als Barnabel dann wieder vor dem Drachen Tianlong erschien und ihm die Kerne der von ihm gegessenen Früchte in der Hand zeigte, hatte er für den Drachen offenbar genug an Gewicht zugelegt. Als es am anderen Ende der Brücke läutete, ließ er Barnabel unter seinem schuppigen Leib hindurchfliegen. Am anderen Ende der Brücke stand ein kleines Kind, sehr blass, sehr verloren und mit vielen Dunklen Dingen bei sich. Barnabel nahm ihm die Dunklen Dingen ab und scheuchte die Schatten fort. Und nachdem auch das kleine Kind den Weg durch die Beine Tianlongs gefunden hatte, ging es weiter bis zu dem Tal, wo die Dunklen Dinge wuchsen. Dort pflanzten sie aus den mitgebrachten Dingen des Kindes einen weiteren Baum. Und zuletzt brachte Barnabel dem Kind das Fliegen bei …

Cornelia Funke hat den Text zu "Die Brücke hinter den Sternen" bereits 2015 für eine Anthologie zugunsten eines Kinderhospizes verfasst und ihn nun als von ihr selbst mit Ölfarben illustriertes Bilderbuch herausgegeben. Bereits die Vorsatzblätter zu Anfang und Ende des Buches sind ganzseitig mit bunten Sonnen, Sternen und Planeten im Weltall bemalt. Das hintere Vorsatzdoppelblatt ist zudem ergänzt um eine schattenhaft geflügelte Gestalt, die vermutlich auf dem Weg zur Brücke ist. Im Buchinnenteil fertigte Funke neben fünf ganzseitigen Illustrationen für alle anderen Seiten kleinere Vignetten wie eine schemenhafte Engelgruppe, ein fliegendes Schweinchen, Blüten bunter Blumen und eine Drachentatze. Die erste Ganzseitenillustration zeigt Barnabel vor dem Kopf des Drachen Tianlong, die zweite Barnabel in der Hand des Engels Bairim, die dritte Barnabels Baum mit den Früchten der Dunklen Dinge, die vierte ein Kind neben der Glocke am Anfang der Brücke umgeben von seinen Ängsten und die letzte zeigt, wie Barnabel dem Kind das Fliegen beibringt.

Ein Bilderbuch zu einem weiß Gott schwierigen Thema, das sich an Kinder ab 5 Jahre richtet.
Der Tonfall und der Grundgedanke der Handlung, den Übergang vom Leben in den Tod als einen von "schweren Herzen" zu Licht und Freude vorzustellen, ist gewiss tröstlich und kindgemäß durchdekliniert. Darüber hinaus bieten die farbenprächtigen Illustrationen mit dem niedlichen Engel Barnabel in weißem Hemdchen samt weißen Flügeln eine sympathische Identifikationsfigur wie auch der Drache, der mit einem Biss tausend Jahre Bosheit verschlingen kann und dessen Kopf einem Leguan ähnelt, sehr freundlich aussieht.
Solange ein Kind ausschließlich etwas vom Übergang zum Tod wissen will, könnte dieses Bilderbuch "funktionieren" - für alle anderen jedoch, die während oder spätestens nach der Lektüre mit mehreren "Warums?" nachhaken, wird schnell deutlich, auf welch tönernen Füßen dieses Bilderbuch steht.
Denn derart einschichtig nur den Übergang vom Leben in den Tod angstfrei gestalten zu wollen, ohne ihn zumindest andeutungsweise in eine ganz bestimmte Vorstellungswelt einzubetten, folgt offenbar dem Motto, "wasch mich, aber mach mich nicht nass".

Der Name Barnabel erinnert an die in der Bibel genannten Erzengel wie Michael und Gabriel - wobei sich bei ihnen die Endsilbe "el" jeweils von der hebräischen Bezeichnung für "Gott" ableitet. Und dies nicht von ungefähr, da Engel in Judentum, Christentum und Islam als Sendboten des einen Gottes dienen, die in der Regel aber zu Lebenden geschickt wurden und in unserem Kulturkreis vor allem als geschlechtslose "himmlische Geistwesen" (zuweilen aber auch in Gestalt junger Männer) beschrieben werden.
Doch Funke nennt weder Paradies oder Himmelreich als Heimstatt von Barnabel und Bairim noch findet Gott in irgendeiner Schreibweise bei ihr Erwähnung - oder irgendein anderer Grund, warum man nach dem Tod an diesen Ort mit Engeln kommt, um dann selber einer zu werden. Ganz davon abgesehen, dass die Verwandlung gestorbener Menschen in Engel von keiner der genannten Religionen tradiert wurde - lediglich humoristische Satiren wie "Der Münchner im Himmel" sehen das so, aber im Gegensatz zu Funke bettet diese Geschichte den bajuwarischen Engel ausführlich in detaillierte Vorstellungen zu Himmel, Gott und den "eigentlichen" Aufgaben von Engeln ein.

Für ihr Ideenfragment sucht Funke stattdessen einem anderen, an sich löblichen Gedanken Rechnung zu tragen, nämlich dem der Vielfalt von Engeln analog zur Vielfalt von Menschen - was ihr allerdings bestenfalls nur ansatzweise gelingt.
Denn eine derartige Vielfalt anhand von nur drei kenntlich ausgemalten Engeln vorzustellen, ist schlicht unmöglich!
Während der kleine Barnabel blond und hellhäutig ist, sind Bairim und das von Barnabel zuletzt begleitete Kind schwarzhaarig und dunkelhäutig. Das namenlos bleibende Kind ist allerdings nur von hinten, und zwar mit weißem Hemdchen, aber noch ohne Flügel zu sehen. Mal ganz abgesehen von den fehlenden anderen Haar- und Hautfarben, sind verstorbene Mädchen und Frauen hier überhaupt nicht erkennbar vertreten. Vielfalt?
Und sollten die Betrachter dieses Bilderbuches mit religiösen Jenseitsvorstellungen und ihren Stereotypen vertraut sein, dann könnte gleich die zweite Ganzseitenillustration auf Seite 21 für Irritationen sorgen. Denn Bairim, der hier mit nacktem Oberkörper in einem See aus Licht steht, wirkt im Vergleich zu dem winzig kleinen Barnabel riesig, so dass nur noch Barnabels blonde Haare und seine weißen Flügel aus der riesigen Hand des erfahrenen Engels hervorlugen. Und im Gegensatz zu Barnabel sind Bairims Flügel nicht weiß, sondern schillern an den Rändern (blut?)rot und nach innen ins Grünlich-Bläuliche. Zusammen mit der Hautfarbe Bairims, die ohne entsprechende Ein- und Anleitung nicht gleich als Zeichen für Vielfalt erkannt wird, wirkt er im Kontext besagter Jenseitsvorstellungen wie ein Dämon, der überlegt, ob er Barnabel gleich oder erst später verschlingt …

Ein schönes Bild und das einzige, das in diesem Bilderbuch auch ohne weitere Erläuterung funktioniert, ist der Tod, für den die titelgebende Brücke als Metapher dient.
Bewacht wird die Brücke aber von einem Drachen, den es so wie von Funke beschrieben und ausgemalt weder in Märchen und schon gar nicht in einem religiösen Zusammenhang mit dem individuellen Tod eines Einzelnen gibt. In der Offenbarung des Johannes taucht der Drache lediglich als begriffliche Verstärkung einer Schlange auf und dient damit als Sinnbild eines Teufels bzw. Satans oder ganz einfach des Bösen - nirgends jedoch als freundlicher Brückenwächter zwischen Leben und Ort nach dem Tod. (Drachen als Wächter werden eigentlich nur in der griechischen Mythologie wie z.B. vor dem Orakel von Delphi erwähnt oder im Märchen als Hüter eines Schatzes.) Und wieso bedarf es überhaupt noch eines die Bosheit verschlingenden Wächters an dieser Stelle der Brücke, wenn beim Abholen Sterbender bereits die zur Begleitung geschickten Engel die mitgebrachten Dunklen Dinge vor dem Übertritt der Brücke zurechtstutzen?
Insgesamt ein unvollkommen zu Ende gedachter Erzählraum für eine Geschichte, der sich offenbar aus einem Flickwerk nicht miteinander harmonierender Ausgangsvorstellungen zusammensetzt.

Soviel Text zu einem schmalen Bilderbuch? Ehre wem Ehre gebührt - wofür ein/e Debütant/in schlicht ignoriert worden wäre, hat selbst ein solches Werk der "international erfolgreichsten deutschen Kinder- und Jugendbuchautorin" schon im Vorfeld eine hohe verkaufsfördernde Aufmerksamkeit, die hier zumindest in kritische Bahnen gelenkt werden und auf angemessene Skepsis stoßen soll.

Weitere Besprechungen zu Werken von Cornelia Funke siehe:
Büchernachlese-Extra: Cornelia Funke

Buechernachlese © Ulrich Karger


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