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Es fällt nicht schwer, Günter Grass wegen seines Eingeständnisses gegen Glashaussitzer aus der zweiten Reihe zu verteidigen (siehe Textenetz-Kommentar). Sein Buch "Beim Häuten der Zwiebel" schlägt aus ganz anderen Gründen auf den Magen. Dabei erinnert Grass doch hierin auf 480 Seiten Kurioses und Aberwitziges, Berührendes und nicht zuletzt auch Tragisches, was ihm lebenslanger Treibsatz für ein anschaulich bildnerisches, vor allem aber herausragend schriftstellerisches Werk wurde - ist insofern das Buch seinen Kaufpreis allemal wert.
"Warum überhaupt soll Kindheit und deren so unverrückbar datiertes Ende erinnert werden, wenn alles, was mir ab den ersten und seit den zweiten Zähnen widerfuhr, längst samt Murmelspiel und verschorften Knien (..) zu Zettelkram wurde, der einer Person anhängt, die, kaum zu Papier gebracht, nicht wachsen wollte(..), der fortan zitierbar zwischen Buchdeckeln existierte und in weißnichtwieviel Sprachen unsterblich sein will?
Weil dies und auch das nachgetragen werden muß. Weil vorlaut auffallend etwas fehlen könnte. Weil wer wann in den Brunnen gefallen ist: meine erst danach überdeckelten Löcher, mein nicht zu bremsendes Wachstum, mein Sprachverkehr mit verlorenen Gegenständen. Und auch dieser Grund sei genannt: weil ich das letzte Wort haben will." (S. 8)
Scheinbar eine Marginalie: Die ersten Buchseiten, denen obiges Zitat entnommen ist, geben zwar das Thema vor, sind aber kein Ersatz für die fehlende, den Autor disziplinierende Genrebezeichnung dieses Werkes.
"Und auch dieser Grund sei genannt: weil ich das letzte Wort haben will." (S. 8)
Das letzte Wort? Kommentare oder Rezensionen wie diese kann er damit nicht ernsthaft verhindert haben wollen.
Oder will er, wollte er zu seinem Leben und über seine Bücher nichts mehr sagen? Selbst wenn dies Buch in besserer Verfassung wäre, klingt es nur kokett hybrid, hat er diesem Wollen doch auch längst so manche Worte hinterdreingesetzt.
Das sinnfällige Bild einer "weißnichtwieoft" entblätterten Zwiebel lenkt den Blick weniger auf das zu Erinnernde als vielmehr auf einen Trotz, ja Starrsinn, der enttäuscht.
Behaupten, sich selbst behaupten - was als höchst effizienter Treibsatz für fabulierte und auf pikareske Prosa bedachte Romane wirkt(e), führt bei ihm zum verstolpernden Abbremsen, wenn es um die Erörterung von Fakten oder auch nur Erinnerungen geht. Aufgeblasene Zwiebelhäute konterkarieren es zu einem Weder-Fisch-noch-Fleisch.
Das schlägt sich vordergründig nieder in dem nachlässigen Gebrauch schnörkeliger Satzbausteine wie jener Garnitur unzähliger "weißnichtwieoft", "weißnichtwielang" oder "weißnichtwarum", die einen bald nur noch aufstöhnen lässt.
Dazu absatzweise kokettierendes Fragen über Fragen, ob man sich denn überhaupt angemessen erinnern kann, anstatt es von vorneherein eine Nummer kleiner mit klar postulierten Erinnerungen anzugehen, die notfalls auch dann und wann einzuschränken gewesen wären. Grass aber versucht sich in die halbherzige Camouflage einer fiktiven Figur zu "hecken", der das Erinnern als zweifelhafte Angelegenheit verdächtig ist. Anstatt nun also über den 10-, 17- oder 30-jährigen zu reden, ihn aus heutiger Sicht einzuordnen, setzt er ihn in Romanperspektive, lässt ihn unreflektiert reden und agieren, erbsenzählende Genauigkeit der Erinnerung evozierend, sie aber dank seiner Rücknahmen nicht einhaltend und so ohne Not nur eins belegend: Grimassierenden Trotz.
Kein Wunder, dass dieser fiktive Grass auch keine von eigener Befindlichkeit absehende Metasicht einzunehmen weiß. Derart entschieden unentschieden in der Haltung zu seinem anfangs angezeigten Thema, mündet denn auch seine Sprachregelung in den Ausfluss unfreiwilliger Selbstparodie, die keineswegs die Qualität seiner Romane und vermutlich auch nicht die seines privaten Sprechens widerspiegelt.
Den späten Zeitpunkt außen vor lassend, gerät Grass nicht zuletzt mit seinem Eingeständnis, als 17-jähriger der Waffen-SS angehört zu haben, nicht wegen der Aussage an sich, als dem verschwiemelt fiktiv eingebetteten Wie seiner Aussage in eine kaum erträgliche Unsäglichkeitszone, in die sich vor Jahren schon Martin Walser in dessen berüchtigten Preis-Rede geflüchtet hatte - auch wenn Grass im Gegensatz zu Walser ja auch in diesem Buch nach wie vor den Holocaust als ein uns Deutschen nicht zu verleugnendes Thema ausweist.
"Verkappen" und "verschatten" - typische auch hier wiederholt eingesetzte Wortmarken von Grass, deren Eigentümlichkeit nunmehr neues, ohne Not anrüchiges Gewicht bekommt.
Die ungesunde Verwandtschaft zu dem Stilisten Walser zeichnet sich zudem mal verkappt mal unverblümt durch beider großschriftstellerisches Gehabe aus, das beleidigt werden kann und weiland von Tucholsky mit dem Hang zum "Übelnehmen" karikiert worden wäre. Was in Interviews überhört werden konnte, trägt hier bar jeder Selbstironie in größerer Münze zur unfreiwillig pointierten Entschleierung einer verstörenden Haltung bei.
"Was vor und nach dem Ende meiner Kindheit geschah, klopft mit Tatsachen an und verlief schlimmer als gewollt, will mal so, mal so erzählt werden und verführt zu Lügengeschichten." (S.10)
Fabuliergespinst oder Wirklichkeit?
Verteilt auf 270 Seiten wird allein fünfzehn Mal die Anekdote über das Würfelspielen mit dem etwa gleichaltrigen, aber gänzlich anders disponierten "Kumpel" Joseph Ratzinger im amerikanischen Gefangenenlager traktiert, um dann jedoch teils von ihm selbst, an einer Stelle von Grass' Schwester sogar heftig angezweifelt zu werden. Egal, ob dieses Würfelspiel der Wirklichkeit entsprach oder als verquere Form von Ironie präsentiert werden sollte - fünfzehn Mal ist zu viel, riecht nach Bedürfnis und Peinlichkeit.
Fassbar nur der sich an einem Teilabschnitt seiner Lebenschronologie orientierende Aufbau. So gliedert sich das Buch in zwei Hälften: Die erste setzt 1937 mit ihm als 10-jährigen ein und schließt mit dem Jahr 1946 ab, die zweite mit dem Erscheinen der Blechtrommel 1959.
Sein Übersehen und nicht Reden in der Kindheit, z.B. als der Lateinlehrer oder ein etwa gleichaltriger, sich dem Dienst an der Waffe verweigernder Zeuge Jehova verschwanden, sind gar meisterlich dramatisiert, um dann nahezu umstandslos mit ihnen gesetzten "Denkmälern" in seinen Büchern aufgewogen zu werden. Seine von der Mutter früh abverlangte Geschäftstüchtigkeit als Schuldeneintreiber steht als gleichrangige Erwähnung daneben, wird noch im Gefangenenlager und vom vertragssicheren Autor als dankenswertes Gut bedacht. Und wenn sich im Gefangenenlager Soldaten wie er mit den als Displaced People auf die Reise nach Palästina wartenden gleichaltrigen Juden streiten, heißt es weiter:
"Dann wieder lachten wir gleichgestimmt über die uns merkwürdigen, ja komischen Amerikaner, besonders über den hilflos bemühten Education Officer, den wir mit Fragen nach der hörbar verächtlichen Behandlung der 'Nigger' in Verlegenheit brachten." (S. 222)
Fabuliergespinst oder Wirklichkeit? Hier hätte es jedenfalls noch eines Einschubs aus anderer, heutiger Perspektive bedurft, die den unseligen Historizismus eines Nolte Lügen straft. Oder das Konzept eines Romans oder einer Novelle, die so etwas bändigt und aus der Verharmlosung zerrt.
Jener schon vorab so fragwürdige Abschnitt, der seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS schildert, umfasst ca. 40, 50 Seiten. Zu Beginn (S. 126 f.) kommt der Begriff "Waffen-SS" zwei Mal vor, um dann noch einmal vor der Aufnahme ins Gefangenenlager als "Doppelrune" umschrieben zu werden. Ansonsten redet Grass in diesem Kapitel von sich als "Panzerschützen", dessen angstbesetzte Erinnerungen auch von einem beliebigen Wehrmachtsangehörigen hätten geteilt werden können. Obwohl seine bereits in Zeitungen nachzulesende Entlassungsurkunde aus der Gefangenschaft die Mitgliedschaft in der Waffen-SS bezeugt, wird der Vorgang dieser Beurkundung nicht erzählt. Das fällt auf und umso mehr ins Gewicht, als man ja zuvor und danach weißnichwieoft zum Running-Gag erhobene Frage- und Statementwiederholungen überlesen muss.
Die zweite Hälfte mit seinen Erinnerungen an den Tod der Mutter, dem Kennenlernen seiner ersten Frau, seiner Arbeit als Steinmetz, der Bewerbung an der Düsseldorfer Kunsthochschule und last, but not least seiner Aufnahme in die Gruppe 47 ist die stärkere, weil überzeugender in seiner Erinnerungskraft und weil die bis zuletzt durchgehaltene Manieriertheit weniger ins Gewicht fällt. Das vorletzte Kapitel, in dem er um das Sterben seiner Mutter mäandernd die Gleichzeitigkeit seiner Abwesenheit schildert, mündet sogar in einer Halbseite, die dem Leser unprätentiös und deshalb überzeugend Anrührung mitteilt. Auch seine ins Heute zielende Glosse über Volkserzieher, "die ihren Fanatismus zwar zivilisiert und auf das Verbot von Nikotingenuß beschränkt haben" nimmt für ihn ein, lässt als eines von wenigen gelungenen Beispielen den satirischen Witz des Unkenrufers aufblitzen. Ansonsten jedoch wähnte Günter Grass offenbar, mit überzogener Stilistik der eigentlichen Anlage des Buches beizukommen, wo er "einfach" nur die Hintergründe eines preisgekrönten Autors zu schildern, aus seinem Leben einfach zu erzählen gehabt hätte.
Als in den 50ern für eine Jahresausstellung Bilder von Günter Grass "ausjuriert" wurden, weil sie nach damaligem Zeitgeist zu gegenständlich sind, zieht er das Fazit:
"Ab dann hielt ich mich von allen dogmatischen Einengungen fern, verlästerte alle Päpste, so später auch jenen, der medienwirksam erhöht den literarischen Himmel einzig nach seiner Elle vermessen wollte, und befreundete mich mit dem Risiko, als Außenseiter dem jeweiligen Zeitgeist widerstehen zu müssen. Das hatte Folgen: nur in Einzelausstellungen, und immer abseits der wechselnden Moden, konnte sich mein künstlerisches Werk behaupten; so blieb es randständig bis heute." (S. 425)
Zutreffend, aber dennoch viel zu eng "behauptet" Grass hier einen Begriff wie "randständig". Da greint einer, der sich trotzig widerborstig gibt und doch eigentlich von allen so geliebt werden will, wie seine Figur Oskar Matzerath, hinter der er sich einst versteckte. Und dabei wurde und wird Günter Grass geschätzt, wie kaum ein anderer Autor in der Nachkriegszeit - aber halt nur von der nach Millionen zählenden Minderheit all seiner Leser.
Ute Scheub, die Tochter jenes einstigen SS-Mannes, der sich während einer Lesung von Grass auf dem Stuttgarter Kirchentag 1969 mit Zyankali vergiftete, schreibt im Tagesspiegel vom 27. August 2006 über den anteilnehmenden Besuch des Autors bei ihrer Familie. Sie stellt heraus, dass Grass einen anderen Weg als ihr Vater gegangen ist, den "des Sprechens und Schreibens. Er hat das, was ihm Schamesröte ins Gesicht trieb, offenbar zu seinem geheimen Antriebsmotor gemacht, und je heftiger der Motor arbeitete, desto fulminanter und wuchtiger wurde des Dichters Sprache. Dieser Kraft verdanken wir nicht zuletzt das schönste seiner Bücher (..). Sein eigenes Unbewusstsein hat hier mitgeschrieben (..).
Ein gutes Werk, so zeigt sich mal wieder, ist stets klüger als sein Autor."
"Beim Häuten der Zwiebel" wurde zum artifiziell ungebändigten Psychogramm und ist damit kein gutes Werk. Das Essentielle, das die Hintergründe für seine Werke lieferte, wird im falschen Zungenschlag, das Anekdotische im falschen Korsett vorgeführt. Aus dem Ruder gelaufen oder vielmehr in ein falsches Boot gesetzt, verrät es mehr vom Autor, als ihm lieb sein kann und uns als Leser zu interessieren hätte.
Weitere Besprechungen zu Werken von Günter Grass und Sekundärliteratur dazu siehe:
Büchernachlese-Extra: Günter Grass