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Am 30.12.89 feiert die Reinkarnation Theodor Fontanes alias Theo 'Fonty'
Wuttke bei McDonald's seinen 70. Geburtstag. Entgegen seinem Willen nicht
allein, sondern mit der Fiktion einer Fiktion des "ewigen" Spitzels
und Nachrichtenzuträgers namens Tallhover alias Hoftaller. Beider
Geschichten sind eng verwoben, so wie sich die Geschichten ihrer biographischen
Vorgänger unvermutet ergänzen, denn im Gegensatz zueinander stehen.
Eine solcherart verschachtelte Sicht z.B. auf die landeshistorischen Geschehnisse
zeitigt denn auch erstaunliche Parallelen zwischen damaligen und heutigen
Gegebenheiten, obwohl doch für unsereinen der Mauerfall nachgerade
wie zum Trost stets als "einmalig" und "wahnsinnig" aufgeköchelt
wird. Aber was die Folgen "historischer" Ereignisse betrifft, war
Fontane seinerzeit eben kein Zola, und bei dem Anblick auf Abbruch wartender,
"leergeweiderter" Häuser in der Nähe einer riesigen Braunkohle-Abraumhalde schreibt Fonty an seine Tochter Martha bzw. "seine Mete": "War nie auf
Misere abonniert. Konnte soviel Häßlichkeit keine Minute länger
ansehen. Nicht nur von Gott - das ginge ja noch -, von aller Schönheit
verlassen, atmete mich die Leere an..." Und es ist der penetrante,
erpresserische mithin "böse" Nach-wie-vor-Mitarbeiter des MfS Hoftaller,
der Fonty zwingt, sich der gnadenlos ungeschönten Faktenlage zu stellen,
denn "Wir können auch anders ...".
"EIN WEITES FELD" von Günter Grass steckt in fünf Kapiteln
ein weit mehr als Berlin-Mark-Brandenburg großes Areal ab, dessen
Geschichts- und Geschichtenablagerungen er bis auf knapp 200 Jahre Tiefe
freilegt. Das fördert eine Vielzahl überraschender Querverweise
zutage, aber gerade auch Details wie "Mietshäuser, denen der Putz
wie eine gelbgraue Uniform angepaßt war" oder "Gluckte auf
ihren Knien, die schwarzgeschuppte Tasche, deren Rundbügel flach anlagen"
haken sich fest und drosseln das Lesetempo auf ein gemächlich schlenderndes,
"fontanesches" Maß. Neben den sich selbst und ihre Vorgänger
zitierenden Schlüsselfiguren belegt ein namenlos bleibender Potsdamer
Archivarius aber auch die erfrischend nüchterne Sicht der Angehörigen
Theo Wuttkes. Zwischen Schöngeisterei, politischen Sachzwängen
und prosaischer Alltagswirklichkeit hin und hergerissen, verwischen die
Rollen von Autoren, Archivaren, Spitzeln und Lesern, die somit jeder für
sich ihren "Status" als Opfer oder Täter zu finden haben. Grass
fordert nichts mehr ein (auch keinen "dritten Weg"), er legt nur
noch bloß und findet damit zur altersweisen Tugend des reinen, tiefschürfenden
Erzählens. Dennoch werden viele "übelnehmen" und vielleicht
sogar ein Wort wie "Verunglimpfung" bemühen. Schon jetzt ein
gesamtdeutscher Klassiker also, der vom Leser gewiß einiges abverlangt,
nur keine Langweile. Metaphernreich und stets den Kern treffend dürfte
EIN WEITES FELD noch am Ende des nächsten Jahrhunderts die Gemüter bewegen.
Weitere Besprechungen zu Werken von Günter Grass und Sekundärliteratur dazu siehe:
Büchernachlese-Extra: Günter Grass