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Eine Idee, die fast schon zu naheliegt: Am Ende eines Jahrhunderts Rückblick
halten und das Vergangene Jahr für Jahr vor Augen führen. Die
nicht zu überspringende Hürde dabei: Es kann nie Alles von Allen
in Betracht gezogen werden, den Fettnäpfchen ist da nur schwerlich
zu entgehen.
Günter Grass aber hat den Gordischen Knoten gelöst, ohne
ihn einfach zu zerschneiden. "Mein Jahrhundert" weist von vornherein auf
eine persönliche Bilanz hin, und wenn nicht er, welcher unserer deutschsprachigen
Autoren hätte dann das altersweise, ironisch gebrochene Format, diese
Bilanz aufzumachen? Von 1900 bis 1999 der volkstümlichen Zählart
folgend, erzählt er 100 kurze Geschichten, davon 17 mit kenntlich
autobiographischen Bezügen, der große Rest aus zum Teil sogar
völlig diametral entgegengesetzten Positionen heraus. Seine im eigene
politische Sicht, insbesondere die mahnend erinnernde gegen Kriege und
Machtmißbrauch vernachlässigt dabei durchaus nicht jene im Kleinen
"weltbewegenden" Dinge, wie sie z.B. aus Mode, Sport und Technik
überliefert sind.
In eineinhalb Jahren 100 Geschichten in leichtflüssige, zuweilen
sogar in authentisch dialektgefärbte Kurzprosa zu verdichten, ist
ein gewaltiger Kraftakt. Hybride Anmaßung, wenn sie nun alle bei
allen gleichermaßen "ankommen" können sollten. Meine
Favoriten waren u.a. jene aus den Jahren 55, 78 und 80, die sich, Atombunker,
Herrn Abs und Regierung versus Boatpeople thematisierend, in ihren Schlußvolten
überboten. Die autobiographischen Einblicke wiederum, z.B. auf den
mit drei Töchtern von drei unterschiedlichen Müttern in die Toskana
reisenden Vater sind von rührend zurückgenommener Zärtlichkeit
und die Begegnungen z.B. mit Biermann trefflich geschildert wie auch die
über mehrere Jahre hinweggehenden Fortsetzungsgeschichten (14-18,
39-45, 66-68, 87-90 und 96-98) von facettenreicher Eindringlichkeit sind.
Insbesondere der in die 60er verlegte Dialog zwischen Remarque und Jünger,
wie sie gemeinsam über den I. Weltkrieg sinnieren, überzeugt
in seiner mehrbödig ausgeloteten Tiefe.
Dies alles ist nun in zwei Buchausgaben nachzulesen. Der Autor und
sein beneidenswert kongenialer Verleger haben sich darauf verständigt,
da jene in Großformat mit ihren mehr als 100 farbig reproduzierten
Aquarellen ihren zurecht hohen Preis hat. (Die Lesebuchausgabe ist nun
zwar um die Hälfte billiger, wird Studenten aber nichtsdestotrotz
auf eine noch preiswertere Taschenbuchausgabe hoffen lassen.)
Zur Bibliophilie Neigende und Grass-Liebhaber sowieso werden sich die
großformatige Ausgabe nicht entgehen lassen. Mit ihren 2,7 Kilogramm
liegt sie zwar schwer auf Knien oder Tisch, aber ihre Farbenprächtigkeit
erhöht zweifellos die Lust zum darin Schmökern. Nur - auch die
Bilder von Günter Grass werden gewiß unterschiedlich wahrgenommen
werden. Einige dienen lediglich plakativer Illustration, bei einigen "hinweisenden"
Händen ließe sich wohl auch über deren Anatomie streiten,
aber die meisten, wie z.B. die Figurengruppen und Landschaftsimpressionen,
beweisen kunstvoll eindrückliche Leichtigkeit und entwickeln einen
gleichwertig korrespondierenden Gegenpart zum jeweiligen Text. Zu ihnen
zählen auch die Zahlenhügel, welche den Umschlag zieren und die
Fortsetzungsgeschichten bzw. Perioden siehe oben rahmen.
Das Beste aber ist, daß Grass auch mit diesem Werk noch lange
nicht am Ende zu sein scheint. Mit über siebzig behaglich gewohnte
Bahnen zu verlassen und sich noch derart gekonnt auf Neues einzulassen,
zeugt nach wie vor von einer Potenz, die eben auch ohne absurde Statements
auskommen kann. Hierbei sei deshalb zum Schluß auch noch auf die
in einem preiswerten Sonderband erscheinenden "Für- und Widerworte"
hingewiesen, die das in zwei seiner älteren und einer gänzlich
neuen Rede unterstreichen.
Weitere Besprechungen zu Werken von Günter Grass und Sekundärliteratur dazu siehe:
Büchernachlese-Extra: Günter Grass