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Leinengebunden inklusive Lesebändchen liegt im Format 24 x 19 cm und 1,7 Kilogramm schwer nun der dritte, inzwischen sechs Jahrzehnte umspannende Werkstattbericht von Günter Grass vor. Der erste Werkstattbericht wurde 1991, der zweite bis 2000, den Empfang des Nobelpreises im Jahr 1999 einschließend, fortgesetzt und 2001 bzw. 2004 um drei Jahre ergänzt herausgegeben, so dass der neue also "nur" noch um das letzte Jahrzehnt bis 2014 erweitert werden musste.
Tatsächlich beginnt dieser Werkstattbericht bereits mit der Aufnahme des 21-jährigen Günter Grass an der Düsseldorfer Kunstakademie im Wintersemester 1948/49, nachdem er sich zwei Jahre lang zuvor als Steinmetz hatte ausbilden lassen.
Erste auf Schwarzweiß-Fotos festgehaltene Plastiken verweisen auf die ersten Studienjahre, im Text wird dann als Frühwerk ein in den Semesterferien von 1951 entstandenes "Italienisches Skizzenbuch" mit Zeichnungen und Gedichten angeführt, das offenbar für den ersten Werkstattbericht von Grass als "offizieller" Beginn seiner eigenständigen künstlerischen Laufbahn angenommen wurde.
Somit müsste bei einem Zuschlag von drei, wenn nicht gar fünf Jahren korrekterweise auch im Titel von "gut sechs Jahrzehnten" die Rede sein - aber wer wollte sich in so einem Fall schon über ein Mehr als angekündigt beklagen?
Wiewohl ein Schwergewicht, bilden die rahmenden Anmerkungen von Günter Grass nur einen Bruchteil dieses Werkstattberichts. Lapidar wird darin abgehakt, was er begonnen, beendet oder einem abgeschlossenen Werk wiederum "abgewonnen" hat. Lapidar, also auch keineswegs ausschweifend, aber im bekannten Ton selbstgewisser Autorität, allein in den Nachrufen verstorbener Freunden ein wenig weicher und etwas ausführlicher. Insgesamt wenig mehr als nur einen Spalt geöffnete Türen zu längst nicht allen Werken, stoßen sie nur Erinnerung bei jenen an, die um sie bereits Genaueres wissen. Ob sich damit noch neue Leser gewinnen lassen? Durchaus möglich …
Diesen Anmerkungen ist von der ersten bis zur letzten Seite noch und vor allem eines zu entnehmen: Ein seit den Anfängen vor über 60 Jahren durchgehend sprudelnder Quell an Ideen, denen wieder neue entspringen, die, zuweilen beiseite gelegt, wieder aufgenommen werden, sich weiteren neuen in den Weg stellen, nur um dann eine passgenaue Synthese zu bilden. Nirgends ist von Pause oder Nichtstun die Rede, dem kleinen Tod eines vollendeten Buches schließen sich dessen variierende Umsetzungen in Grafisches oder Plastisches oder beides zugleich an, und aus sich davon abseits entwickelnden Bildwerken erwuchs bereits der Keim für ein, zwei neue Bücher. Und war er krank oder beleidigt oder beides, dann fand er Anderes zu tun, wie Texte einzulesen, mal ohne, mal mit musikalischer Begleitung, oder Preise und Stipendien zu stiften, verfolgte Minderheiten zu bedenken, junge Autoren oder alte Weggefährten zu gemeinsamen Austausch einzuladen. Dazwischen sich politisch äußern, zeitweilig Wahlkämpfe für die "ES-PE-DE" führen und immer wieder mal hohe und höchste Ehrungen empfangen.
Für viele ein echtes Aha-Erlebnis dürfte endlich aber das sein, was den Großteil dieses Quaders füllt: Handschriftliche Manuskripte und ein Jahr vorausschauende Arbeitspläne, anfangs noch in Dreiviertel-Sütterlin zuletzt in durchgehend lateinischer, zuweilen sogar lesbarer Schrift - die allesamt kalligrafische Wirkung zeigen und denen auch noch Skizzen ein- und untergeschoben sind.
Und dann vor allem Skizzen, Zeichnungen, Radierungen, Lithografien, Aquarelle und aus Ton modellierte sowie in Bronze gegossene Plastiken. Die meisten Buchumschläge seiner Werke sind von ihm selbst entworfen - und er hat auch noch anderen Kollegen die Bücher ausgeschmückt. Und all seinen bildnerischen Arbeiten ist ein unverkennbarer Ausdruck eigen, der sich in seiner Gegenständlichkeit gegen die zeitweilig übermächtige Tendenz zur Abstraktion gestellt hat. Altmeisterlich im Sinne von meisterhaft, fast immer auf der Höhe der Zeit und mit viel Dynamik und nicht weniger satirischem Witz Inneres nach Außen tragend.
All das vor Augen wird sein wiederholt unverständlich skurriles Beleidigtsein wegen einer ihm nicht mehr als genug erscheinenden Anerkennung und Ehrerbietung, die naturgemäß auch von zuweilen ungerechtfertigten wie auch gerechtfertigten Kritiken durchsetzt war, zur reinen Nebensache. Jetzt und angesichts dieser Werkschau gilt es noch ins Warme hinein einen literarischen und bildnerischen Creator zu würdigen, der in Deutschland seinesgleichen sucht und wovon derzeit nur in dem einen oder anderen Teilbereich eine Handvoll neben ihm zu finden sein wird.
Insofern war uns Günter Grass in all den Jahrzehnten auch ein mehr als großzügig Beschenkender - mittelbar in seinen Veröffentlichungen und unmittelbar in seinen Schenkungen und Stiftungen. Den einzigen Kontrapunkt könnten hier womöglich seine zahlreichen Kinder setzen - denn wer sich so ausdauernd und scheinbar ausschließlich nach außen verströmt, kann nur sehr schwer gleichzeitig die alltäglichen Kleinigkeiten in Kinderzimmern auffangen und bedenken. Womit nur gesagt sei, dass Größe nie ohne Defizite woanders zu erreichen ist, und wir Genießer und Bewunderer solcher Größen nie vergessen sollten, dass Mittelmaß auch nicht vor Defiziten schützt.
Der mittlerweile 87-jährige setzt am Ende dieses Werkstattberichts einen "auf Zukunft setzenden Doppelpunkt" und ein (er werde) "nicht vor der Zeit aufgeben und weiterhin versuchen, unterschiedlich schwere Steine bergauf zu bewegen".
Darauf ohne Wenn und Aber ein respektvolles "Hut ab!".
Weitere Besprechungen zu Werken von Günter Grass und Sekundärliteratur dazu siehe:
Büchernachlese-Extra: Günter Grass