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Mit dem 65. Lebensjahr werden Déja-vu-Erlebnisse nicht mehr besonders
angemerkt, sondern hingenommen. Günter Grass nimmt sie aber nach wie
vor nicht "einfach" hin, sondern zieht in UNKENRUFE endlich den
Schluß, der die Größe seiner Persönlichkeit und seiner
erzählerischen Fähigkeiten am besten bezeugt: Ein Mahner zu sein,
der nicht nur an der Dummheit seiner Mitmenschen scheitert, sondern auch
an der Unauslotbarkeit geschichtlicher Folgen für aktives Handeln.
Das enthebt den Kritiker, berechtigte Mahnungen gegen die früher ausgeprägt
larmoyante Arroganz des Autoren und Podiumsdiskutanten Grass auspielen
zu müssen.
Gerade die gepflegte Selbstironie des Autoren, der sich als im wahrsten
Sinne des Wortes hintergründiger Erzähler der Geschichte seines
einstigen Banknachbarn Reschke ins Spiel zu bringen weiß, erhöht
die Dringlichkeit der UNKENRUFE. Nicht mehr fischig-glatt wie im BUTT,
sondern mit feinen Rissen unter seiner scheinbar abweisenden Haut bekennt
er widerwillige Anteilnahme und respektable Verletzlichkeit, die den Spruch
von der rauhen Schale und dem weichen Kern nicht mehr abgedroschen erscheinen
läßt.
Aus dem Fundus chaotischer Wahrscheinlichkeiten bezieht nun Grass seine
Protagonisten, u.a. einen Kunstprofessor aus Bochum und eine Vergolderin
aus Danzig, verhäkelt wie "zufällig" ihre Schicksale zu
einer Liebesgeschichte aus der eine Idee erwächst, die, wie reine
Satire sein soll, anstößig ist ... und demnächst sicher
bald verwirklicht wird! Als Kontrapunkt zu der Begründung einer "Deutsch-Polnischen
Friedhofsgesellschaft", die wenigstens die Leichen an vermeintlich
angestammte Plätze zurückführen helfen soll, setzte Grass
den Bengalen Chatterjee, der in Danzig mit seiner Rikscha-Produktion ein
ungeahntes wirtschaftliches Wachstum freisetzt - mit beiden Ideen spielt
Grass virtuos auf der Tastatur des ganz alltäglichen Wahnsinns und
bezeugt zugleich in feinsinnig bestechender Sprache den unwiderbringlichen
Ort seiner Herkunft: Das Danzig seiner Kindheit.
Weitere Besprechungen zu Werken von Günter Grass und Sekundärliteratur dazu siehe:
Büchernachlese-Extra: Günter Grass