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"Sie hat es gern, in der Tür zu stehen, über die Straße
zu spähen, die Äcker, bis zum dunstigen Wald, Gesicht, Brust
und Hände in der Kälte, Rücken und Hintern in der Wärme.
Paní Bozena Koska, die alte Schlampe, die eine Deutschenliebste
gewesen ist, eine Kollaborateurin, die nichts dazugelernt hat, wie die
angeblichen Kenner ihrer Geschichte behaupten."
Dieser Frau hat Peter Härtling ein literarisches Denk-Mal gesetzt,
das sicher zu den schönsten dieses Bücherherbstes zählen
dürfte. Es ist zugleich eine geheimnisvolle Neubegegnung mit Härtlings
Vater, dem er in NACHGETRAGENE LIEBE schon einmal nahezukommen suchte.
Die tschechischen Universitäten waren vom "Reichsprotektor" geschlossen
worden, so daß Bozena ihr Jurastudium nach dem zweiten Semester abbrechen
mußte. Sie fand Unterschlupf bei einem alten Anwalt als Sekretärin.
Der übergab allerdings seine Kanzlei bald an einen deutschstämmigen
Kollegen. Wegen ihrer Kenntnisse wurde Bozena von diesem weiterbeschäftigt.
Auch wenn der Deutsche kein "Tschechenfresser" war, saß sie
bald zwischen allen Stühlen, eine 24-jährige Tschechin mit abgebrochenem
Studium, die für einen Deutschen arbeitete und ... sich in ihn verliebt
hatte. Ihm, dem deutschen verheirateten Anwalt diese Liebe zu gestehen,
kam ihr nicht in den Sinn. Erst recht nicht, als er von einem Tag auf den
anderen die Kanzlei schließen mußte. Da war der Krieg bald
zu Ende und Bozena wurde als Kollaborateurin verhaftet. Die Folgen waren
Lagerarbeit und lebenslange Ächtung. Der einzige Trost, neben ihren
stets Moritz genannten Hunden, waren die nie abgeschickten Briefe an ihre
große, unerfüllte Liebe. Erst sehr viel später erfuhr sie,
daß der Deutsche bereits 1945 in einem russischen Kriegsgefangenenlager
gestorben war.
Diese Geschichte endet mit einem lakonischen Finale, in dem alle und
alles einen letzten tragikomischen Schliff erfahren. Ein Finale, das selbst
Hartgesottene erschüttern müßte. Gleichsam in Pastell zeichnete
Härtling dieses Leben nach, dem die Weltgeschichte mit ihrer unverständigen
Suche nach Sündenböcken so viel Ungerechtigkeit widerfahren ließ
und dem dennoch zu keinem Zeitpunkt die Würde genommen werden konnte.
Der autobiographische Ausgangspunkt dieser Geschichte, Härtlings Vater,
spielt dabei paradoxerweise zugleich eine Haupt- und Nebenrolle. Er steht
nicht mehr im Mittelpunkt kindlicher Sehnsüchte, sondern wird zu einem
himmelweit entfernten Fixstern, einem fiktivem Stern für die letztlich
ja durch seine Herkunft in Bedrängnis geratene Bozena. Dank Bozena,
deren Figur offenkundig auch einen realen Hintergrund hat, wächst
der Vater nun über die Vaterrolle hinaus und wird zu einem mittlerweile
jüngeren Gegenüber des Autoren - zu einem Menschen, der geliebt
wurde, jedoch nie von dieser Liebe erfahren hatte.
Die Kraft dieser Novelle liegt sicher nicht zuletzt in ihrer Authentizität
begründet. Aber Härtling nutzte seine ihm eigene Sprachfertigkeit
und machte daraus ein Meisterstück. So gab er Bozenas Stimme Wahrhaftigkeit,
was viel mehr ist, als klein auf klein alles genau der Wirklichkeit entsprechend
wiederzukäuen. Er hat dabei nicht nur das Geschehen, sondern auch
die tschechische Sprache, den melancholischen Humor beispielsweise eines
Čapek oder eines Hašek übersetzt bzw. als längst eingegliederten
Teil unserer deutschen Sprache wieder hervorgehoben. Dieser Humor sprüht
sicher nicht vor Optimismus, aber ihn mit Resignation gleichzusetzen, wäre
weit gefehlt. Es ist die Poesie eines "Die Gedanken sind frei ...",
eines durch nichts zu brechenden Trotzdem, eine Poesie, die wir wieder
nötiger haben denn je.