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Büchernachlese-Extra: Peter Härtling

Peter Härtling

Bozena

Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1994, 187 S., ISBN: 3-462-02359-4, >>> Amazon
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"Sie hat es gern, in der Tür zu stehen, über die Straße zu spähen, die Äcker, bis zum dunstigen Wald, Gesicht, Brust und Hände in der Kälte, Rücken und Hintern in der Wärme. Paní Bozena Koska, die alte Schlampe, die eine Deutschenliebste gewesen ist, eine Kollaborateurin, die nichts dazugelernt hat, wie die angeblichen Kenner ihrer Geschichte behaupten."
Dieser Frau hat Peter Härtling ein literarisches Denk-Mal gesetzt, das sicher zu den schönsten dieses Bücherherbstes zählen dürfte. Es ist zugleich eine geheimnisvolle Neubegegnung mit Härtlings Vater, dem er in NACHGETRAGENE LIEBE schon einmal nahezukommen suchte.
Die tschechischen Universitäten waren vom "Reichsprotektor" geschlossen worden, so daß Bozena ihr Jurastudium nach dem zweiten Semester abbrechen mußte. Sie fand Unterschlupf bei einem alten Anwalt als Sekretärin. Der übergab allerdings seine Kanzlei bald an einen deutschstämmigen Kollegen. Wegen ihrer Kenntnisse wurde Bozena von diesem weiterbeschäftigt. Auch wenn der Deutsche kein "Tschechenfresser" war, saß sie bald zwischen allen Stühlen, eine 24-jährige Tschechin mit abgebrochenem Studium, die für einen Deutschen arbeitete und ... sich in ihn verliebt hatte. Ihm, dem deutschen verheirateten Anwalt diese Liebe zu gestehen, kam ihr nicht in den Sinn. Erst recht nicht, als er von einem Tag auf den anderen die Kanzlei schließen mußte. Da war der Krieg bald zu Ende und Bozena wurde als Kollaborateurin verhaftet. Die Folgen waren Lagerarbeit und lebenslange Ächtung. Der einzige Trost, neben ihren stets Moritz genannten Hunden, waren die nie abgeschickten Briefe an ihre große, unerfüllte Liebe. Erst sehr viel später erfuhr sie, daß der Deutsche bereits 1945 in einem russischen Kriegsgefangenenlager gestorben war.
Diese Geschichte endet mit einem lakonischen Finale, in dem alle und alles einen letzten tragikomischen Schliff erfahren. Ein Finale, das selbst Hartgesottene erschüttern müßte. Gleichsam in Pastell zeichnete Härtling dieses Leben nach, dem die Weltgeschichte mit ihrer unverständigen Suche nach Sündenböcken so viel Ungerechtigkeit widerfahren ließ und dem dennoch zu keinem Zeitpunkt die Würde genommen werden konnte. Der autobiographische Ausgangspunkt dieser Geschichte, Härtlings Vater, spielt dabei paradoxerweise zugleich eine Haupt- und Nebenrolle. Er steht nicht mehr im Mittelpunkt kindlicher Sehnsüchte, sondern wird zu einem himmelweit entfernten Fixstern, einem fiktivem Stern für die letztlich ja durch seine Herkunft in Bedrängnis geratene Bozena. Dank Bozena, deren Figur offenkundig auch einen realen Hintergrund hat, wächst der Vater nun über die Vaterrolle hinaus und wird zu einem mittlerweile jüngeren Gegenüber des Autoren - zu einem Menschen, der geliebt wurde, jedoch nie von dieser Liebe erfahren hatte.
Die Kraft dieser Novelle liegt sicher nicht zuletzt in ihrer Authentizität begründet. Aber Härtling nutzte seine ihm eigene Sprachfertigkeit und machte daraus ein Meisterstück. So gab er Bozenas Stimme Wahrhaftigkeit, was viel mehr ist, als klein auf klein alles genau der Wirklichkeit entsprechend wiederzukäuen. Er hat dabei nicht nur das Geschehen, sondern auch die tschechische Sprache, den melancholischen Humor beispielsweise eines Čapek oder eines Hašek übersetzt bzw. als längst eingegliederten Teil unserer deutschen Sprache wieder hervorgehoben. Dieser Humor sprüht sicher nicht vor Optimismus, aber ihn mit Resignation gleichzusetzen, wäre weit gefehlt. Es ist die Poesie eines "Die Gedanken sind frei ...", eines durch nichts zu brechenden Trotzdem, eine Poesie, die wir wieder nötiger haben denn je.

  • Diese Rezension findet sich übrigens nun auch in "Buchners Schulbibliothek der Moderne / Peter Härtling, Božena - Text & Kommentar", C.C.Buchner Verlag, Bamberg 2016


  • Weitere Besprechungen zu Werken von und über Peter Härtling siehe:
    Büchernachlese-Extra: Peter Härtling

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