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Vor dem ersten Weltkrieg war Brünn (jetzt: Brno) ein Schmelztiegel,
in dem Deutsche und Tschechen, Juden und Christen in scheinbar friedlicher
Koexistenz zusammenlebten. Doch unterschwellig gab es Vormachtstellungen,
die mal die Deutschen, mal die Tschechen innehatten. Nach dem zweiten Weltkrieg
wurden die Deutschen "vertrieben", ein Akt, der bis heute für
Spannungen im deutsch-tschechischen Verhältnis sorgt.
Lea und ihre ein Jahr ältere Schwester Ruth entstammten einer
in Brünn angesehenen Kaufmannsfamilie. 1914 war ihnen weit weniger
der Kriegsbeginn, als das gemeinsam verbrachte erste Schuljahr von Bedeutung.
Kindheit, Jugend und Erwachsenenwelt folgten in den sich wechselnden politischen
Verhältnissen aufeinander, doch der eigene Horizont wuchs nur an den
konkreten, sie selbst betreffenden Befindlichkeiten. So verabscheuten sie
zwar jedweden Fanatismus, hielten aber dennoch an einer selektiven Wahrnehmung
fest, die immer zu spät begriff und bestenfalls das eigene Überleben
zu sichern vermochte.
Peter Härtling erzählt in wunderbar melodischer Sprache und
rollt an dem Schicksal der Schwestern unaufdringlich ein Stück Zeitgeschichte
auf. Jedes Kapitel der chronologisch aneinandergereihten Erinnerungen wird
von einem Kapitel abgelöst, daß beide schildert, wie sie in
tragikomischer Symbiose vereint die letzten Tage ihres Lebens im schwäbischen
'N.' fristen. Schon nach wenigen Seiten werden die Schnitte immer weicher,
verwischt sich Vergangenheit mit Gegenwart und umgekehrt. Die Melancholie
über den Verlust der einst engen kulturellen Bindungen zwischen Tschechen
und Deutschen bekommt hier Namen und Gesichter, die man so schnell nicht
wieder vergißt.
Weitere Besprechungen zu Werken von und über Peter Härtling siehe:
Büchernachlese-Extra: Peter Härtling