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Büchernachlese-Extra: Außergewöhnliche Morduntersuchungen

Mo Hayder

Tokio

Roman. Aus dem Englischen von Ute Thielmann. Goldmann Verlag, München 2005. 416 Seiten. 19,90 Euro. ISBN: 3-442-31018-0, >>> Amazon
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Mit 14 Jahren hat Grey ein traumatisches Erlebnis. Überbehütet in einem englisch bürgerlichen Haushalt, wurde alles, was mit Sexualität zu tun hat, von ihr ferngehalten. Doch dann hatte Grey gleich mit mehreren Jungen hintereinander Sex. Freiwillig. Dennoch landete sie physisch und seelisch versehrt in der Psychiatrie. Das eigentliche Trauma ist jedoch ihr Gefühl des nicht Ernstgenommen-werdens, und so entwickelt sie eine Obsession, die sie knapp zehn Jahre später nach Tokio fliegen lässt, um Shi Chongming, einen alten Professor der Soziologie zu besuchen. Von ihm erhofft sie, einen Film sehen zu können, der die Brutalität der japanischen Invasion in China Ende der 30er Jahre anschaulich macht. Doch der Professor sperrt sich. Um die Zeit zu überbrücken und in Tokio überleben zu können, beginnt Grey als Hostess zu arbeiten. Dabei lernt sie auch den im Rollstuhl sitzenden, so geheimnisvollen wie übermächtigen Unterweltboss Junzo Fuyuki kennen. Er wird für Grey bald zum Dreh- und Angelpunkt. Gelingt es Grey, über Junzo Fuyuki an bestimmte Informationen zu gelangen, will Shi Chongming ihr endlich den Film zeigen ...
War "Der Vogelmann" schon verstörend, sollte man Mo Hayders neuem Roman "Tokio" eine Banderole mit "Nur für mündige Erwachsene geeignet" umbinden. Thriller, Spannungsliteratur - das sind alles Zuordnungen, die hierfür nicht ausreichen, denn Komposition, Sprache und Anliegen dieses Romans greifen weit darüber hinaus. So wird Tokio eben nicht nur zur klischeehaft beladenen, "geheimnisvollen" Folie, gegen die eine westliche junge Frau stur anzurennen versucht. Die Heldin geht zwar einer Obsession nach, ist aber hochintelligent, spricht und liest fließend japanisch und chinesisch, so dass sie trotz ihrer Obsession bald die notwendigen Kontakte schließen kann. Was ihr angetan wurde und sie sich selbst angetan hat, ist erschütternd, doch keineswegs so weltbewegend wie der Abgrund, der sich zwischen Junzo Fuyuki und Shi Chongming auftut. Zweigleisig, immer abwechselnd zwischen dem gegenwärtigen Agieren Greys und den Tagebucheinträgen Shi Chongmings aus dem Jahre 1937, öffnet die Autorin eine Büchse des Grauens, die von den meisten Japanern noch immer geleugnet wird. Der Gedanke an Relativierung dieser Untaten mit anderen, verbietet sich von selbst - Mo Hayder geht es vor allem um die Notwendigkeit, das Schicksal von Opfern wie Tätern zu benennen. Nur wenn beide Seiten hinschauen und es nicht aus falscher Scham oder gar Stolz verdrängen, eröffnen sich Wege eines Neubeginns. "Tokio" ist ein mitreißend drastisches Lehrstück dafür.

Buechernachlese © Ulrich Karger


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