buechernachlese.de
|
Die Sagenwelt der griechischen Antike scheint wiederentdeckt zu werden.
Allein zwei neue Nacherzählungen und ein Theaterstück zur Odyssee,
die eine ernsthafte Auseinandersetzung mit ihr suchen. Darüberhinaus
ein zwar aufwendig gedrehter und zur Weihnachtszeit in der Primetime eines
Privatsenders ausgestrahlter Odyssee-Zweiteiler, der jedoch nur noch von
einer Serie und einem Walt-Disney-Zeichentrickfilm über Herkules unterboten
wird - jedenfalls was die Interpretation und die philologische Richtigkeit
der besagten Mythen angeht. Allein schon die römisch-lateinische Namenssetzung
'Herkules' in die ansonsten (verunstaltete) griechische Götterwelt
einzuführen, bereitet da Bauchschmerzen und beweist eine rein auf
dem kleinsten vermuteten Bildungs-Nenner begründete Assoziations-Vermarktungsstrategie.
Aber selbst hierzu werden nicht nur die 'Bücher zum Film', sondern
im Gefolge auch wieder vermehrt die "Orginale" nachgefragt ...
Neueinsteigern wie Kennern sei nun eine Neuauflage von Karl Kerényis
"Die Mythologie der Griechen" anempfohlen. In Band I werden darin umfassend
"die Götter- und Menschheitsgeschichten", in Band II "Die Heroengeschichten"
vorgestellt. In den 50er Jahren erstmals erschienen, erweisen sich diese
Bände noch immer als ein gültiges Standardwerk und unterstreichen
den Ruf des 1973 verstorbenen Autoren als einen der bedeutensten Religionswissenschaftler
dieses Jahrhunderts.
Kerényi hat aus dem Problem, daß sich die griechischen
Mythen nicht in ein streng systematisches oder gar chronologisches Korsett
zwingen lassen, einen wissenschaftlich wie literarisch gelungenen Ansatz
entwickelt. So beginnt er den ersten Band zwar mit den (insgesamt drei)
Schöpfungsgeschichten, endet aber nicht mit dem Kapitel "Prometheus
und das Menschengeschlecht", sondern schließt daran noch "Hades
und Persephone" sowie die Mythen zu Dionysos an. Hierbei gaben ihm zum
Einen die vermuteten Entstehungszeiten der Geschichten sowie eine "vertikale"
Ausrichtung den Rahmen vor: Vom Himmel über die Erde zur Unterwelt.
Diesen Faden, der auch andere Werke Kerényis durchzieht, verbindet
er mit der These, daß die vielgestaltig und zahlreich bevölkerte
Götterwelt sich letztlich den Antagonismen von Helios (Sonne) und
Hades (Unterwelt) zuordnen lassen.
Kerényi erzählt nun die unterschiedlichen Variationen der
jeweiligen Geschichten, aus der Sicht eines Alter Ego. Er stellt sich dabei
einen "Erwachsenen" vor, der den Versuch "gleich einem um die
Nachwelt völlig unbekümmerten und wie Aristophanes ungezogenen
Klassiker" unternimmt, "die Mythologie der Griechen in der Form
einer zusammenhängenden Erzählung vorzulegen". Diese Erzählhaltung
schützt die einzelnen Geschichten vor einer Zerfaserung und erlaubt
somit ungetrübten Lesegenuß. Daß sie dennoch einer wissenschaftlichen
Untersuchung standhält, belegen nicht zuletzt die unzähligen
Fußnoten, die aber erst im Anhang auf eine äußerst genaue
Quellenscheidung hinweisen. Überhaupt dieser Anhang: Hier finden sich
die besagten umfangreichen Quellennachweise, über sechzig (in Band
II an die achtzig) Fotos von Keramikmalereien sowie ein in vier (in Band
II in zwei) Kapitel unterteiltes Stichwortregister, das aus diesen Geschichtenbüchern
zugleich äußerst brauchbare Nachschlagewerke macht.
Auch Günter Grass hat sich kürzlich bei der Frage, warum
er nicht längst resigniert habe, auf die Standhaftigkeit und den Listenreichtum
des in der griechischen Unterwelt steinewälzenden Sisyphos berufen
- bei Kerényi ist hierzu nun nachzulesen und zu entdecken, daß
nach einer Erzähltradition nicht Laërtes, sondern der göttliche
und "erste Beherrscher der Buchstabenkunst" Sisyphos der Vater des
Odysseus sei. Eine Querverbindung, die Grassens Metapher womöglich
noch tiefgründiger als von ihm beabsichtigt sein läßt ...
Weitere Besprechungen zu Werken von Karl Kerényi siehe:
Büchernachlese-Extra: Karl Kerényi