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In vier Zeitsprüngen erzählt Stephen King diesmal vom untergehenden
ATLANTIS jener Generation, die einst daran ging, die Welt auf den Kopf
zu stellen.
1960 endet für Bobby und Carol die Zeit der Kindheit. Sein bester
Freund Sully ist verreist, und Bobby muß alleine mit der Erkenntnis
fertig werden, daß ihn seine Mutter nur sehr begrenzt lieben kann.
Der alte Ted mit seinen Büchern ist ihm da ein großer Trost.
Er ist es auch, der Carol nach einer Mißhandlung durch drei ältere
Jungen hilft. Doch Ted wird von "niederen Männern" verfolgt,
denen er am Ende machtlos gegenübersteht.
1966 erzählt Pete Riley von seinem Studienbeginn auf der University
of Maine. Peace-Zeichen und Anti-Vietnamdemonstrationen sind noch belächelte
Randerscheinungen. Daß Pete damals wie einige seiner Freunde beinahe
von der Uni fliegt, liegt vor allem in ihren exzessiven Kartenspielschlachten
begründet. Doch dank Carol und dem Einzelgänger Stoke findet
Pete gerade noch rechtzeitig einen Weg aus seiner Bewußtlosigkeit.
1983 wird die Geschichte von "Blind Willie" erzählt. Hinter ihm
verbirgt sich einer der Jungen, die seinerzeit Carol mißhandelt haben
und der noch immer dabei ist, eine selbst auferlegte Buße abzuleisten.
Wie er das macht, ist so phantastisch, daß hier nichts davon verraten
werden soll.
1999 umfaßt zwei Episoden. In der ersten blickt Sully auf die
traumatische Zeit in Vietnam zurück. Dort hat er u.a. auch jene "Freunde"
Petes kennengelernt, die wegen ihrer kartenspielbedingt ungenügenden
Leistungen von der Uni abgehen mußten. In der zweiten schließt
sich der Kreis im Zusammentreffen von Bobby und Carol, die als längst
totgeglaubte Terroristin in die Geschichte eingegangen ist.
Ein neuer Stephen King? Ja und nein. Nach den immer schwächer
werden "Produktionen" der letzten Jahre, hat er offenbar endlich
die Kurve zu einem neuen Anlauf gekriegt und erweist sich einmal mehr als
"Meister des Schreckens". Seine Wahrnehmung und Darstellung kindlich-jugendlichen
Alltags in den 50er und 60er Jahren kann sich dabei, was pointierten Aberwitz
angeht, durchaus mit Salinger messen. Die Abschnitte 1960 und 1966 werden
daher gewiß auch so manches nostalgisches "Achja" hervorrufen.
Dennoch weist das halbe Buch einnehmende Jahr 1960 eine Schwäche auf,
die ohne den starken Rest vielleicht gar nicht so bemerkt worden wäre.
Zum Einen hat es Längen und King hätte sich gut 100 Seiten davon
für ein neues Buch zurücklegen können. Fataler ist jedoch
der anspielungsreiche Brückenkopf zu seinem Überprojekt "Dunkler
Turm". Anstatt einfach nur die spannungsgeladene Atmosphäre und die
anschaulich zugespitzten Schrecken des Alltags wirken zu lassen, gerät
er nämlich mit seinen "niederen Männern" völlig unnötig
in ein ziemlich unglaubwürdiges Fahrwasser. Die andere Hälfte
des Buches aber hat Biß, gerade weil er hier alles wohldosiert unter
die Leute bringt, und es gelingen ihm wunderbar schwebende Variationen
zu Goldings "Herr der Fliegen", in denen er gnadenlos mit seiner Generation
abrechnet. So lautet Sullys Fazit am Ende: "Wir hatten die Gelegenheit,
alles zu verändern". Doch "die einzige Generation, die uns
in puncto purer, egoistischer Selbstsucht halbwegs das Wasser reichen kann,
ist die sogenannte Lost Generation der zwanziger Jahre".
ATLANTIS hat etwas von einem Schlüsselroman, und King scheint
endlich einen beträchtlichen Schritt zu sich selbst gewagt zu haben.
Das läßt einen wieder erwartungsvoll auf Neues von ihm gespannt
sein.
Weitere Besprechungen zu Werken von Stephen King siehe:
Büchernachlese-Extra: Stephen King