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Die namenlose Ich-Erzählerin in Sheila Kohlers Roman ATEMNOT beherrscht
die Kunst des Verdrängens. Die Tötung eines einst gleichaltrigen
Mädchens war ihr nicht des Erinnerns wert. Erst Jahre später,
als ein ihr lästiger Mann sie auf das getötete Mädchen anspricht,
erlaubt sie dem Geschehenen ans Bewußtsein zu treten und befreit
sich damit von Kopfschmerzen und Atembeschwerden.
"Der Friede des frühen Morgens durchrieselte mich. Was machte
es denn am Ende aus, daß dieses eine Leben verloren war, daß
dieses junge Mädchen gestorben war, während ich weitergelebt
hatte? Ganz gewiß machte es nicht das geringste aus."
Ein solcher Mensch kommt in der Literatur nur selten so ausführlich
zu Wort. Die weiße Frau aus Südafrika mit dem Hintergrund einer
feudalherrschaftlichen Erziehung gesteht nicht, sondern lebt bis zuletzt
ihre scheinbar gewissenlose Gemütsverfassung aus. Was mit anderen
geschieht, betrifft sie nicht. Sie handelt, wie es ihr in den Sinn kommt,
ohne sich um Konventionen zu kümmern. Es scheint, als wäre sie
die personifizierte Unschuld des Bösen, wären da nicht spannungsgeladene
Widersprüche, die die Autorin unaufdringlich einzufließen lassen
versteht. Da ist z.B. die Gabe der Ich-Erzählerin, in aller Präzision
zu sondieren, d.h. der Vorgang des scheibchenweise Erinnerns wurde in eine
geradezu poetische Kunstform gebracht. Dies bewirkt eine drastische Steigerung
der scheinbaren Ungeheuerlichkeit dieser Erzählerin. Scheinbare Ungeheuerlichkeit,
denn diese Ich-Erzählerin ist kein Ungeheuer. Ihre Lebensweise ist
der unbewußte Reflex eines Kindheitstraumas, natürlich - aber
wie das alles in diesen Monolog eingebunden wird, ist schlicht atemberaubend.
Sheila Kohler hat uns mit ihrem Romandebut ein Meisterwerk vorgelegt,
das von Karen Nölle-Fischer ebenbürtig in eine wunderbare Poesie
des Grauens übersetzt wurde.