buechernachlese.de
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Ex und hopp - Überlegungen zur deutschen Innenpolitik werden mehr
denn je als Wegwerfartikel gehandelt. Aus Willy Brandts gefordertem homogenen
Zusammenwachsen wurde ein temporeiches, ränkevolles Zusammenkleistern.
Aber dies einig Volk führt ja auch in Versuchung: Vom Fernsehen den
Zeitraffer gewohnt (slow motion höchstens für Szenen vor dem
Fußball-Tor), läßt es sich nur allzugern von den eigentlichen
Problemstellungen ablenken, um dann "ganz engagiert" Bewegendes
wie die Frage nach dem Standort einer Hauptstadt zu erörtern. Oder
die nach dem künftigen Strickmuster eines Sargtuches für ungekrönte
Staatshäupter - zwei links, zwei, drei, vier rechts. Oder die nach
Sang und Klang der einen, einig Landes-Hymne:
"Wo man singt, da laß dich ruhig nieder / böse Menschen
haben keine Lieder."
Wenn der amorphe Volksmund zu reimen beginnt, sollte man in Deckung
gehen, denn Dummheit schützt vor Strafe nicht. Und wenn derselbe Volksmund
meint, mit Einigkeit und Friedensverträgen (zu Polens Westgrenze ist
die letzte Unsäglichkeit sicher noch nicht gesagt ...) könnte
man doch nun endlich wieder aus voller Seele und ohne schlechtes Gewissen
der Sitzung eines Kleingärtnervereins den liturgischen Anfang geben,
so sollte er erstmal nachsitzen und das Buch von Hermann Kurzke vor sich
auf der Schulbank zu liegen haben.
Den Buchtitel HYMNEN UND LIEDER DER DEUTSCHEN werden die Augen über
dem Volksmund sogar bereitwillig aufnehmen, aber dann ...
Die genaue, auf das kleinste Detail achtende Analyse dieser speziellen
Gattung sangbarer Literatur, müßte eine heilende Wirkung zeigen,
ließe sich das Gegenüber überhaupt auf vernünftige
Argumente ein:
"Es ist erstaunlich und manchmal bestürzend, was alles auf
ein und dieselbe Melodie gesungen wurde. (...) Politische Lieder sind einem
ungewöhnlich hohen Verschleiß ausgesetzt."
Dieser Umstand machte sie für H.K. "zu einem Modellfall für
wirkungsgeschichtliche Studien".
Sein vorgestelltes Spektrum umfaßt außer den offiziellen
Hymnen der deutschsprachigen Länder auch die deutsche Rezeption des
God save the King, der Marseillaise, der kommunistischen Internationale
und des altkirchlichen Te Deum.
Daß der Verfasser des DEUTSCHLANDLIEDES ein oppositioneller Demokrat
war und 1841 sein "Deutschland über alles" als ein Deutschland
über Sachsen, Baden, Preußen und Holstein und keineswegs als
eines über Frankreich, Rußland oder England verstanden haben
wollte, wissen viele, aber nicht die meisten. Aber wer weiß z.B.
noch, daß Brüder, zur Sonne, zur Freiheit von Kommunisten, Sozialdemokraten
und Nationalsozialisten mit gleicher Inbrunst, wenn auch aus unterschiedlichem
Antriebe geschmettert wurde?
Oder daß mit einem Großer Gott, wir loben dich ebenso Schindluder
getrieben bzw. Textverfälschungen angestellt werden konnte wie mit
der Internationale?
Und dies, so weist H.K. philologisch-sachlich nach, lag auch z.T. schon
in der orginären Textstruktur begründet, ja ist sogar ein möglicher
Beweis für seine "Lebendigkeit":
"Klassische und kanonisierte Texte leben geradezu davon, daß
die wechselnden Epochen den immer gleichen Worten immer neue Deutungen
abgewinnen."
Solch eine Aussage in obigen Zusammenhang ist nur zu verstehen als
eine rein wissenschaftliche Auseinanderstzung innerhalb dieser speziell
ausgesuchten Materie. Man kann und man muß auch den Text des Horst
Wessel Liedes auf seine literarische Qualität hin untersuchen, um
dessen Wirkungsgeschichte zu begreifen. Die Technik ist unschuldig, nur
die Benutzer der Technik tragen die Verantwortung?
"Ein restaurativer Umgang mit dem vorgestellten Liedgut wäre
nicht nur nicht angebracht, sondern auch zum Scheitern verurteilt. Die
meisten dieser Lieder sind definitiv tot."
Und nicht nur dazu blitzt in den anhangsintensiven Kapiteln ein gut
plazierter trockener Humor auf, wenn H.K. z.B. im Zusammenhang mit den
unverdächtigeren Liedern der Arbeiterbewegung feststellt:
"Man kann nicht Nun reckt empor des Elends Stirnen singen, wenn
man die 35-Stunden-Woche und ein ordentliches Einkommen errungen hat."
H.K. schreibt keine Hymnen, sondern hat sie untersucht. Es liegt an uns allen, insbesondere denen, die mit Politik und Bildung ihr Brötchen
verdienen, aus dieser Untersuchung die entsprechende Schlußfolgerung
zu ziehen. Z.B. ob eine Arbeitslosenbewegung be-rechtigteren Zugriff auf
so ein altes Arbeiterlied haben könnte oder ob man nicht überhaupt
auf solche Symbole, auch neugefertigte, gänzlich verzichten sollte.
Denn die heutige Wechselwirkung von Form und Inhalt wird nahezu immer,
früher oder später, von materialistischen oder/und Macht-Interessen
korumpiert. Und der von H.K. nicht dezidiert behandelte Ausgangspunkt aller
Hymnen, sind die an den Gott des Alten Testamentes gewesen. Und die beinhalteten
grundsätzlich neben dem Lob und Preis einen Dank und die daraus resultierende
Eigenverantwortung am Leben. Das höchstens bei Unterdrückten
früherer Jahrhunderte als subtiles Nachrichtenmedium gerechtfertigte
aber ansonsten auch zum beinharten Kampf aufstachelnde und bedenkenlosmachende
Geplärre chauvinistischer Sehnsüchte hatte damit nie wirklich
etwas im Sinn gehabt.
"Was einst die 'deutsche Seele' war, läßt sich an ihnen
(Lieder und Hymnen; d.Verf.) bestens studieren. Sie gehören nicht
in die Vereine und Parteien, aber in die Gymnasien und Universitäten."
Ansonsten mag es hierbei ausnahmsweise seine Richtigkeit haben: Ex
und hopp damit!