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Erich Loest

Nikolaikirche

Roman. Steidl (Linden)verlag, Göttingen (Leipzig) 1995, 520 S., ISBN: 3-9802139-8-6, >>> Amazon
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Gut vier Millionen haben sich den Zweiteiler "Nikolaikirche" im Fernsehen angeschaut. So manche werden nun auch den gleichnamigen Roman von Erich Loest lesen wollen. Bei einem Umfang von 520 Seiten erübrigt sich fast schon die Feststellung, daß Inhalt und Wirkung des Romanes in weiten Teilen nicht mit dem Film identisch sind und sein können.
Vermochte der Film auf die plakative Wirkung dokumentarischer Bilder zu setzen und mit der einfachen Frage, wer ist nun IM oder nicht, Spannung zu erzeugen, so hat der Roman den Vorzug, weit mehr Details zu erfassen und genauer auszumalen.
Hatte man im Film den Eindruck, die "schöne" Astrid Protter wäre gegen ihren Willen in ein Sanatorium abgeschoben worden, belegt der Roman nun etwas ganz anderes: Sie selbst dachte von sich als Kranke, und erst im Sanatorium lernt sie eine Christin kennen, die sie peu à peu in die "Szene" der Friedensgebete einführt. Astrids Verweigerung am Anfang, als Architektin die papiergewordenen Schönredereien einer unzureichenden Stadtplanung zu unterschreiben, stellte also noch keineswegs einen seiner Tragweite bewußten politischen Akt dar.
Im Film Nebenfiguren, sind der selbst nach seinem Tode übermächtige Vater und VoPo-General Albert Bacher sowie der Photograph und Ex-Sträfling Linus Bornowski nun von weit größerer Präsenz. Deren "Rückblenden" spannen den Bogen bis in die 30er Jahre und erhellen ein wenig den Hintergrund der Familie Bacher, wenngleich ihr eigentümliches Nebeneinander nicht die Dynamik einer Familiensaga entwickelt. Deren inneren Befindlichkeiten und Beziehungsgeflechten noch mehr nachzuspüren, hätte wohl entweder seinen vorgegebenen Rahmen gesprengt oder sie waren Loest schlicht noch nicht zugänglich.
Was die äußeren Kausalzusammenhänge angeht, dürften aber auch die ausführlicheren Beschreibungen der Kirchenleute Ohlbaum und Reichenbork und die des Superintendenten interessieren.
Von großer Brillanz und höchster Dichte ist der im Film nur teilweise vorgelesene "anonyme Brief". Da ist Loest gewollt oder ungewollt eine nach wie vor brandaktuelle Paraphrase auf den Psalm 22 (Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?) gelungen, die ihresgleichen sucht.
Ein, wenn auch im anderen Kontext, leider ebenso aktuelles Sinnbild legt Loest einem ehemaligen Theologiestudenten nach dem Tode Reichenborks in den Mund: "Die Kirche war ein Großbetrieb wie jeder andere, der Konzerndirektor saß in Dresden, Abteilungsleiter war der Sup, und Ohlbaum als Angestellter hatte weniger Spielräume, als mancher dachte."
Die evangelische Kirche kommt aber insgesamt dank solcher Figuren wie Ohlbaum und Reichenbork noch sehr gut weg - ohne den von diesen Einzelnen bis aufs Äußerste genutzten Freiraum, den der Staat der Kirche und die Kirche wiederum den Einzelnen beließ, wäre eine gewaltlose "Wende" jedenfalls nicht denkbar gewesen.
Die Sprache Erich Loests läßt sich vielleicht am besten als "kraftvoll" kennzeichnen. Abgesehen von kleinen Schnitzern - Bornowski wird aus Westberlin entführt, in den 60ern nach elf Jahren Haft in Bautzen II wieder nach Westberlin entlassen und nutzt angeblich gleich darauf mit dem Motorrad den Transitweg durch die DDR - bildet er mit ihr das Sichtbare, d.h die Schlagschatten vor den Geschichte gewordenen Ereignissen in Leipzig sehr gut ab und vermag bis zur letzten Seite zu fesseln.

Buechernachlese © Ulrich Karger


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