buechernachlese.de
|
Gut vier Millionen haben sich den Zweiteiler "Nikolaikirche" im Fernsehen
angeschaut. So manche werden nun auch den gleichnamigen Roman von Erich
Loest lesen wollen. Bei einem Umfang von 520 Seiten erübrigt sich
fast schon die Feststellung, daß Inhalt und Wirkung des Romanes in
weiten Teilen nicht mit dem Film identisch sind und sein können.
Vermochte
der Film auf die plakative Wirkung dokumentarischer Bilder zu setzen und
mit der einfachen Frage, wer ist nun IM oder nicht, Spannung zu erzeugen,
so hat der Roman den Vorzug, weit mehr Details zu erfassen und genauer
auszumalen.
Hatte man im Film den Eindruck, die "schöne" Astrid
Protter wäre gegen ihren Willen in ein Sanatorium abgeschoben worden,
belegt der Roman nun etwas ganz anderes: Sie selbst dachte von sich als
Kranke, und erst im Sanatorium lernt sie eine Christin kennen, die sie
peu à peu in die "Szene" der Friedensgebete einführt.
Astrids Verweigerung am Anfang, als Architektin die papiergewordenen Schönredereien
einer unzureichenden Stadtplanung zu unterschreiben, stellte also noch
keineswegs einen seiner Tragweite bewußten politischen Akt dar.
Im
Film Nebenfiguren, sind der selbst nach seinem Tode übermächtige
Vater und VoPo-General Albert Bacher sowie der Photograph und Ex-Sträfling
Linus Bornowski nun von weit größerer Präsenz. Deren "Rückblenden"
spannen den Bogen bis in die 30er Jahre und erhellen ein wenig den Hintergrund
der Familie Bacher, wenngleich ihr eigentümliches Nebeneinander nicht
die Dynamik einer Familiensaga entwickelt. Deren inneren Befindlichkeiten
und Beziehungsgeflechten noch mehr nachzuspüren, hätte wohl entweder
seinen vorgegebenen Rahmen gesprengt oder sie waren Loest schlicht noch
nicht zugänglich.
Was die äußeren Kausalzusammenhänge
angeht, dürften aber auch die ausführlicheren Beschreibungen
der Kirchenleute Ohlbaum und Reichenbork und die des Superintendenten interessieren.
Von großer Brillanz und höchster Dichte ist der im Film nur
teilweise vorgelesene "anonyme Brief". Da ist Loest gewollt oder
ungewollt eine nach wie vor brandaktuelle Paraphrase auf den Psalm 22 (Mein
Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?) gelungen, die ihresgleichen
sucht.
Ein, wenn auch im anderen Kontext, leider ebenso aktuelles Sinnbild
legt Loest einem ehemaligen Theologiestudenten nach dem Tode Reichenborks
in den Mund: "Die Kirche war ein Großbetrieb wie jeder andere,
der Konzerndirektor saß in Dresden, Abteilungsleiter war der Sup,
und Ohlbaum als Angestellter hatte weniger Spielräume, als mancher
dachte."
Die evangelische Kirche kommt aber insgesamt dank solcher
Figuren wie Ohlbaum und Reichenbork noch sehr gut weg - ohne den von diesen
Einzelnen bis aufs Äußerste genutzten Freiraum, den der Staat
der Kirche und die Kirche wiederum den Einzelnen beließ, wäre
eine gewaltlose "Wende" jedenfalls nicht denkbar gewesen.
Die Sprache
Erich Loests läßt sich vielleicht am besten als "kraftvoll"
kennzeichnen. Abgesehen von kleinen Schnitzern - Bornowski wird aus Westberlin
entführt, in den 60ern nach elf Jahren Haft in Bautzen II wieder nach
Westberlin entlassen und nutzt angeblich gleich darauf mit dem Motorrad
den Transitweg durch die DDR - bildet er mit ihr das Sichtbare, d.h die
Schlagschatten vor den Geschichte gewordenen Ereignissen in Leipzig sehr
gut ab und vermag bis zur letzten Seite zu fesseln.