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"Eines der merkwürdigsten Phänomene der Wende ist das mangelnde
Interesse an der Kultur und das geradezu überschäumende an ihren
Machern."
Er, Matthias Matussek, hat Interesse an der Kultur, insbesondere am
Theater, aber "auch bei Gysi interessierten mich nicht in erster Linie
seine Ideen, die Geschmeidigkeit seiner Argumente, die Austauschbarkeit
politischer Positionen, sondern der Mensch, der dahintersteckte."
Matussek arbeitet seit geraumer Zeit für den SPIEGEL und legt
nun sein 4. Buch vor, das eine "persönliche Geschichte vom Jahr
der deutschen Einheit" erzählt.
Eine Orientierungshilfe im deutsch-deutschen Gefühlschaos schien
ihm Heiner Müller zu sein, den er sehr schätzt, weil für
ihn "Menschen keine Heiligen sind, keine gereinigten Comic-Helden, sondern
gleichzeitig großartig und Schweine".
Matussek braucht sich jedoch nicht hinter zitierfähigen Leuten
zu verstecken, sondern beweist den Mut zur subjektiven Vereinahmung sogenannter
historischer Stunden. "Unser" Erringen der Fußballweltmeisterschaft
oder der Verlust seines ausgebeulten Cabrios wird ihnen gegenübergestellt
- ganz wie im wirklichen Leben eines privilegierten Kleinbürgerlebens
mit durchaus links-progressiven human-touch. Zudem hat er das gewisse Etwas,
notwendige Situationskomikmuster in die pathosgeladenen und später
katzenjammernden sehr deutsch-gefühligen Gewebe einzustricken. Das
fängt schon damit an, wie ihm in Santa Cruz ein US-Amerikaner zum
Fallen des "iron curtain" gratuliert. Seine Reportage vom Erdbeben
in Kalifornien würde nun zur Randnotiz, dabei war hier "ewiger
Sommer. Und am anderen Ende der Welt November. Was hatte ich mit Deutschland
zu schaffen, mit DEUTSCHLAND? Die Bundesrepublik, meinetwegen, Städte
wie Hamburg, München, West-Berlin, Oberhausen, in denen ich aufgewachsen
war und studiert und sozusagen dezentral gelebt hatte. An den kleinen Brocken
Deutschland hatte ich dabei nie gedacht. Und ganz bestimmt nicht an die
DDR, die womöglich aus dem schlanken einen fetten Brocken machen würde!"
Er sollte es kennenlernen, das nochmals gewendete Deutschland. Über
ein halbes Jahr wohnte er im Ost-Berliner Palasthotel und gelangte so zu
einer ganz speziellen Sicht deutscher Befindlichkeiten, vor allem die der
DenunziantInnen, die alles nun ganz genau ... vom anderen wußten.
Die eingestreuten Reportagen mit und über Heiner Müller, Hans-Peter
Minetti, Ruth Berghaus, Hermann Kant, Thomas Krüger und Gregor Gysi
sind offen parteilich und gerade deshalb nicht denunziatorisch. Und Matussek
kann auch anders als flapsig. Bei den sogenannten "kleinen" Leuten
vermittelt er ungekünstelte Anteilnahme, dann ist ihm nur noch "zum
Heulen". Der durch den Titel seines Buches evozierten Nähe zu
E.E. Kisch kommt er hierbei am Nächsten, ebenso am Schluß bei
seiner Geschichte über den russisch-jüdischen Pianisten A. Ugorski,
der gerade noch rechtzeitig in Ost-Berlin eine Bleibe gefunden hat.
Ein erholsames Buch, das vieles wieder auf den Boden der Tatsachen
stellt, mit Selbstironie und einer weiteren Erkenntnis von Heiner Müller:
"Ein Problem der Intellektuellen ist, daß sie ihren Einfluß
überschätzen. Wir müssen aufhören, Religionsstifter
sein zu wollen."