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Die Zwillinge Patrice und Patricia wollten sich eigentlich nicht mehr
begegnen. Patricia hatte sich als erste aus der inzestiösen Beziehung
zu ihrem Bruder befreit und ist dann nach Paris, Patrice wenig später
nach Santiago di Chile abgeflogen. Doch dann geschah das Unglaubliche:
Ein berühmter italienischer Tenor wurde auf offener Bühne erschossen,
der Vater der Zwillinge hatte die tödliche Waffe bei seiner Verhaftung
noch in der Hand. Als Untersuchungshäftling in Moabit erhielt er dann
Besuch von den beiden - nacheinander. Nur für eine Nacht trafen sich
die Geschwister noch einmal in der elterlichen Villa. Patrice kam gerade
aus Santiago an, Patricia wollte am nächsten Tag zurück nach
Paris, wo für später ein letztes Treffen in einem Bistro geplant
war. Bei dieser Gelegenheit sollten dann jeweils sieben Schulhefte ausgetauscht
werden, in denen sie sich gegenseitig ihre eigene Sicht auf die Ereignisse
um ihren Vater schildern würden und auf das, was allem vorausgegangen
war.
Es ist noch gar nicht so lange her, da vermochte Pascal Mercier mit
seinem Romanerstling "Perlmanns Schweigen" einen großen Durchbruch
zu feiern. Neben der abenteuerlichen Konstruktion war die Kritik insbesondere
von Merciers "kristalliner Eleganz" in seiner Sprachführung
angetan. Auf den ersten Blick wirkt "Der Klavierstimmer" dagegen etwas
einfach gestrickt. Getragen wird das Ganze von den zweimal sieben Heften,
die abwechselnd Patrice und Patricia zu Wort kommen lassen. Dem Gestus
nach also ein Briefroman - und dann doch weit mehr. Dank der von vorneherein
auf eine letzte Begegnung setzenden Dynamik erlauben diese Hefte den geradezu
voyeuristischen Einblick in geschickt miteinander korrespondierende Tagebücher
und sind von daher weit intimer, als es die Konstruktion eines Briefromans
zugelassen hätte. Und da Mercier seine beiden Autoren mit großer
Intelligenz und Sensibilität ausgestattet hat, bedarf er auch keiner
erläuternden Zwischentexte. Nur für die Volte auf den letzten
drei Seiten des Buches mußte er ihre Erzählebenen verlassen
und das Geschehen im Bistro von außen beschreiben.
Obwohl Zwillinge, zeichnen sich Patrice und Patricia durch unterschiedliche
Temperamente aus. So würde Patricia ihre Geschichte am liebsten als
eine Folge von Bildern vorführen, während sie über Patrice
sagt: "Dein Bericht wird wortgewandter sein als der meine. Die Worte
kommen dir schneller als mir, und es sind mehr Worte." Und von Anfang
an setzt Mercier auf Plausibilität, denn er läßt nichts
behaupten, was nicht über kurz oder lang seine innere Logik erfährt.
Die einzige Hürde dieses Romans könnten die ersten Seiten
des ersten Kapitels beziehungsweise des ersten Heftes sein. Die Melodie
von Patrices Wehklage über die Trennung von Patricia erinnert hier
stark an Groschenromane der Herz-Schmerz-Kategorie, und man befürchtet
schon die schlimmsten Abgründe. Nachdem das Skandalon der Inzestverbindung
bereits zu Beginn beim Namen genannt wurde, zieht eigentlich nur noch der
im Klappentext angekündigte Mord. Doch das ist nur der Eröffnungszug
eines Schein-Sein-Spiels, das Mercier offenbar perfekt beherrscht. Spätestens
Patricias Stimme im zweiten Kapitel bricht den scheinbaren Glattschliff
des ersten wohltuend auf, und der Inzest als Phänomen rückt in
den Hintergrund. Er wird mehr und mehr zum Sinnbild einer komplexen Familiengeschichte,
die bei den Großeltern einsetzt und erst mit den Zwillingen überwindbar
scheint. Die Dreh- und Angelpunkte verschieben sich immer wieder und knüpfen
so gleich einem Weberschiffchen eine dichte Textur. Sind es erst die Zwillinge,
ist es bald der Vater, ein bereits zu Lebzeiten legendärer Klavierstimmer,
der jedoch weit lieber mit seinen Opernkompositionen erfolgreich wäre.
Dann fällt der Blick unverhofft auf die Mutter und das Verhältnis
zu ihren Eltern, dann wieder auf die Zwillinge als Kleinkinder mit ihrem
Vater, und so weiter und so fort. Jede Geschichte erweist sich als Teilgeschichte
der nachfolgenden, die, wie das Leben so spielt, auch noch manchmal mißverstanden
wird und zuletzt tödlich endet.
Mit Santiago, Paris, Berlin und der ländlichen Schweiz als Herkunftsort
des Klavierstimmers hat der offenkundig polyglotte Mercier auch ein an
Handlungsorten spannungsreiches Viereck gezogen, das hierzulande nicht
zuletzt durch seine treffenden und detailgenauen Beschreibungen von Berliner
Straßenzügen bemerkenswert ist. Von der Atmosphäre Zehlendorfs
bishin zum symbolträchtigen Kunst-am-Bau-Wandschmuck der Außenfassade
am Moabiter Untersuchungsgefängnis läßt sich alles bei
entsprechenden Spaziergängen wiederentdecken.
Die Hauptfaszination dürfte aber von den fesselnden Charakteren
ausgehen, die sich bereits weit vor dem Ende dieses Romans jeder einfachen
Zuordnung entziehen. In der Kunst traditionellen Erzählens formvollendet,
breitet sich in ihnen ein Panorama von Sehnsüchten und Enttäuschungen
aus, das weit über den Tellerrand blicken läßt und dem
blinden Vertrauen auf den ersten Eindruck entgegenwirkt. Ein Erzählduktus,
der dann auch stets aufs Neue mit seinen brandaktuellen Bezügen überrascht.