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Eine alte Frau hält Rückschau. Kurz nach der Jahrhundertwende wurde Viktoria geboren. In Bagdad. Als Jüdin. Jahrzehntelang wurde ihr Leben, wie das Leben ihrer Familie von den Innenmauern des 'Hofes' bestimmt und begrenzt. Wer innerhalb dieses Hofes lebte, egal ob direkt verwandt oder auch nur angeheiratet, wurde niemals fallengelassen oder vor die Tür gesetzt. Allerdings gab es klare Hierarchien. Hatte die Frau das Pech, von ihrem Mann verlassen zu werden, mußte sie mit dem Kellerloch vorlieb nehmen und zugleich genügend 'Stolz' bewahren, um nicht womöglich etwas vom Tisch der Anverwandten zu erbetteln - auch nicht für die vor Hunger schreienden Kinder. Eine Intimsphäre gab es nicht. Alles, egal ob Beischlaf oder Tod, wurde früher oder später vor allen verhandelt, waren doch auch alle Zeugen dieser Begebenheiten. An der Seite von Rafael feierte Viktoria Triumpfe, wenn dieser Mann ihr nach Jahrzehnten schließlich soviel von seinem Verdienst überließ, daß sie für sich und die Kinder den Traum einer eigenen Wohnung verwirklichen konnte. Davor und dazwischen aber durchlitt sie nicht zuletzt die Qualen einer Frau, deren Mann ganz selbstverständlich auch noch andere Frauen beglückt hatte und zudem tuberkulosekrank war. Wäre Rafael vor ihr gestorben, wäre ihre Biographie und die ihrer Kinder im katastrophalen Nichts versandet. Sie mußte zeitlebens dankbar sein, daß er die Ausbrüche seiner Krankheit stets überlebt und die Verantwortung für sie nie völlig vergessen hatte ...
Die Welt, die uns der 1926 in Bagdad geborene, seit 1949 in Israel lebende Autor Sami Michael enthüllt, ist indes nicht einfach als Horrorszenario abzutun, auch wenn er in seinem Roman bezeugt, daß offenkundig alle drei Schriftreligionen den Vorwand für das Ausleben patriachalischen Wahnsinns bis in die jüngste Gegenwart hinein gaben und geben. So wie es auch manche Ex-DDR-Bürger immer wieder beteuern, hat selbst Viktoria nicht nur gelitten, sondern 'gelebt' und Freude empfunden. Über Tabus, wie z.B. über die Sexualität und die diesbezüglichen Fähigkeiten ihrer Männer, vermochten sich die Frauen in ihren 'Nischen' sehr offen auszutauschen.
Überhaupt Sami Michaels Sprache: 'Wenn Murad sein Essen verputzte, hörte sich das an, als liefe einer über Kies ...'; hervorragend ins Deutsche übertragen, entführt sie einen dank ihrer Sinnlichkeit in die Welt von 1001-Nacht, nur um diese Welt dann umso energischer bloßzustellen. Der Erzählfaden wird von zwei erinnerungsstiftenden Momenten her aufgerollt. Der eine liegt mehr in der Mitte, der zweite am Ende des Lebens von Viktoria. Das ist nur manchmal verwirrend, unterstreicht es doch den Eindruck, wie scheinbar übergangslos das Selbstbild dieser Frau bis zuletzt von der übergestülpten Ordnung der Männer geprägt bleibt - auch im gegenwärtigen Israel.
Egal ob weltlich oder religiös definierte Ordnung, die Frauen sind in diesen patriachalen Systemen stets die Verliererinnen, solange sie nicht gleichberechtigt an den Definitionen dieser Ordnungen beteiligt werden. Sami Michael hat in einem Anti-Mythos von ungewöhnlicher Sogkraft diesem Mißstand samt seiner (wenigen) positiven Aspekte ein faires, faszinierendes Denkmal gesetzt, daß uns mahnt, keine vorschnellen Urteile zu fällen, sondern zuzuhören, im Gespräch zu bleiben.