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Eine Kindheit im Flandern der 70er Jahre. Als kleiner Junge ist er oft bei seinen Großeltern zu Gast und nimmt bei der alles dominierenden Großmutter eine Ehrenstellung ein, sieht er doch ihrem geliebten Bruder Marcel sehr ähnlich. Dieser Marcel ist als 'Schwarzsack' an der russischen Front gefallen. Er hatte sich jedoch weniger als Kollaborateur, denn als flandrischer Patriot verstanden. Die Historie noch längst nicht fassend, sieht sich der Enkel den Stimmungen der Erwachsenen ausgesetzt, die hinter freundlich verlogener Fassade den vergangenen Zeiten nachtrauern und dem jeweils anderen nichts verziehen und vergessen haben. Als er zuletzt wegen des Adlerstempels heimlich einen Brief Marcels in die Schule mitnimmt und von der bis dahin geliebten Lehrerin nicht gleich wiederbekommt, malt er sich das Schlimmste aus.
'Marcel' ist der Debutroman des Niederländers Erwin Mortier. Nicht umsonst bereits mit fünf Preisen ausgezeichnet, wurde die hervorragende Übersetzung durch Waltraud Hüsmert von der Vlaams Fonds voor de Letteren gefördert. Sich dem Zeitgeist des Schrillbeliebigen entgegenstellend, gelingt dem Autor eine mitreißende Momentaufnahme, die das Versponnen- und Ausgeliefertsein des Kindes genauso anrührend widerspiegelt wie die von den Gespenstern der Vergangenheit heimgesuchte Gegenwart der Erwachsenen. Stößt bereits die ländlich niederländische bzw. flandrische Perspektive auf dieses Zeitbild gewiß auf großes Interesse, so ist es nicht zuletzt Mortiers treffsicherer Metaphernreichtum und sein Gefühl für poetisch flüssige Sprache, die aus dieser Geschichte trotz des düsteren Sujets ein echtes Lesevergnügen macht.