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Büchernachlese-Extra: Günter Grass | Büchernachlese-Bestenliste 2017

Uwe Neumann (Hrsg.)

Alles gesagt?

Eine vielstimmige Chronik zu Leben und Werk von Günter Grass. Steidl Verlag, Göttingen 2017. 992 Seiten. 45,00 Euro. ISBN: 978-3-95829-243-7, >>> Amazon
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Alles gesagt? Zu Günter Grass (1927-2015)??
Gewiss nicht! Selbst nicht mit einer 992 Seiten umfassenden Anthologie, die Grass aus der Perspektive hunderter Menschen innerhalb eines Zeitraums von 60 Jahren spiegelt, darunter keineswegs nur Schriftstellerkollegen, Literaturkritiker oder Politiker.
Der von Uwe Neumann herausgegebene, 1,25 Kilogramm schwere Buchblock mit der rhetorischen Frage "Alles gesagt?" im Titel erlaubt vielmehr einen Neuanfang, einen neuen Blick auf diesen Autor und Citoyen, dem in der veröffentlichten Meinung höchste Auszeichnungen und zuweilen zeitgleich tiefste Verachtung entgegengebracht wurden. Ein Dazwischen gab und gibt es natürlich auch, aber selbst wenn es öffentlich wurde, setzte es sich längst nicht so fest wie beispielsweise die Verleihung des Literaturnobelpreises oder das Coverbild des Spiegelmagazins, das einen ungebärdigen Literaturkritiker buchstäblich beim Zerreißen eines Buches von Grass zeigte.
Diese Polarität war vor allem im deutschen Sprachraum ausgeprägt - außerhalb davon überwog hoch achtende Wertschätzung und Bewunderung, wie sie z.B. die südafrikanische Literaturnobelpreisträgerin Nadine Gordimer formulierte: "Seit Thomas Mann hat kein deutscher Schriftsteller eine so große Wirkung auf die Weltliteratur gehabt."

Die Auswahl für diese Anthologie erfolgte "von Herzen subjektiv", was nicht zuletzt auch der Materialfülle geschuldet war, der Uwe Neumann bei seinen seit 2008 aufgenommenen Recherchen in den verschiedenen Grass-Archiven gegenüberstand. So verfügt laut seinen Angaben allein das Bremer Medienarchiv über 120000 Dokumente zu Grass, die zudem in Teilen noch gar nicht bibliographisch erfasst sind. Von der internationalen Rezeption ganz zu schweigen, die erst in Ansätzen untersucht worden ist. Zudem fehlen in dieser Anthologie nicht nur der übergroße "Rest", sondern auch Texte, bei denen Autoren keine Erlaubnis zur Veröffentlichung erteilt hatten sowie Rezensionen bzw. Literaturkritiken, die für sich allein ebenfalls Bände füllen könnten.
Neben rund 380 bislang unveröffentlichten Briefen an Günter Grass hat Neumann wenig bekannte, abseitige oder/und originelle Texte aus anderen Archiven oder Veröffentlichungen zusammengestellt und sie chronologisch von 1955 bis 2015 nach ihrem Absendedatum oder dem Datum ihres Erscheinens sortiert. In ihnen werden im Wesentlichen vier Themenbereiche angesprochen, die häufig auch in ein und demselben Text aufscheinen: Persönliches wie Portraits oder Schilderungen von Begegnungen, Kommentare u.a. von anderen Schriftstellern über das literarische Werk von Grass wie auch deren Rezeption, die zuweilen wiederum in ihren eigenen Romanen Niederschlag als Hommage oder als Parodie gefunden hat. Daneben zahlreiche Stimmen von bekannten bundesdeutschen Politikern, die nicht zuletzt auch das jahrzehntelange meinungsstarke Einbringen von Günter Grass in die politische Debatte würdigen sowie als viertes "Feld" Anekdotisches und Kurioses, wozu Neumann auch die etwa im Buch verteilten 20 Karikaturen und Portraitskizzen rechnet - die schönste ist wohl die von Paul Flora aus dem Jahr 1964, die auch den Umschlag ziert und in der ein Günter Grass im Gewand einer Kaschubin die ersten Zeilen aus der Blechtrommel strickt. Dem Kuriosen hingegen sind u.a. jene oft sehr hartnäckig vorgebrachten Beschimpfungen zuzurechnen, die in ihrer selbstgerechten Kleingeistigkeit gegenüber der Projektionsfläche Günter Grass keineswegs nur bei den ab den 1960ern noch immer umgebremst tobenden Nazis zu verorten waren.

Inwiefern aber erlaubt diese Textsammlung einen Neuanfang, einen neuen Blick auf Günter Grass?
Nun, wer an seiner einmal gefassten Meinung festhalten will - egal, ob nun Grass und sein Werk bewundernd oder in toto ablehnend -, wird dafür ausreichend Zeugen zitiert finden. Tatsächlich hat Neumann hier keine Hagiographie vorgelegt, sondern eine Zusammenschau, deren spannungsreiches Nebeneinander lohnt, von Anfang bis Ende durchgelesen zu werden. Dann kann auch ein jeder nicht nur die jeweilige Gegenposition zur Kenntnis nehmen, sondern auch sehr differenzierte Ansichten von Menschen, die man "eigentlich" eher dem einen oder dem anderen Lager zugeordnet hätte. So bezeugt Hans Magnus Enzensberger, der lange Jahre nur noch einen "Seitenblick" auf Günter Grass hatte, in dem letzten Beitrag in dieser Anthologie unter anderem auch: "Geld spielte für [Günter Grass] nur so lange, wie es fehlte, eine Rolle. Kapital interessierte ihn nicht. (..) Wer weiß, wen er alles gefüttert hat! An bekannte und unbekannte Kollegen gab er oft und gern ein paar Tausender weg, stiftete Preise und Häuser, und zwar ohne daß seine Gaben je in der Zeitung standen." Demgegenüber finden sich bei dem Gründer der Gruppe 47 und "väterlichen" Freund Hans Werner Richter oder dem "Bruder" Peter Rühmkorf durchaus auch kritische Anmerkungen zu ihm.
Allein diese Anthologie, die ja nur einen winzigen Bruchteil von Ansichten über das Werk von Günter Grass vorstellt, ist ein bemerkenswerter empirischer Nachweis dafür, dass jeder Leser sich ein Buch auf seine Weise "aneignet" bzw. es sich "anverwandelt", d.h. jedes Buch vervielfältigt sich mit jedem Leser. Und bei berühmten, im Falle von Günter Grass, weltberühmten Autoren gilt das auch im Hinblick für den Blick auf den Autor selbst. Bei allem Ruhm und sich anhäufenden Tantiemen, sich diesem millionenfachen Blick ausgesetzt zu sehen, ist ein hoher Preis, der leicht unterschätzt wird. Und dass Grass dennoch bis ins hohe Alter an seinem Recht auf eine eigene, lautstark vertretene Meinung festhielt, kann spätestens nach dieser Lektüre auch unter dem Gesichtspunkt betrachtet werden, dass er das schon lange vor seinem Tod weder finanziell noch des Ruhmes wegen nötig gehabt hätte. War Günter Grass also ganz anders, als man zuvor gedacht hatte?
Nicht unbedingt - aber wahrscheinlich vereinigte er in sich weit mehr, als gedacht, im Positiven wie im Negativen.

Die Ausstattung des Buches ist Steidl gemäß einmal mehr vortrefflich und ihren Preis wert: Leinenbindung, Lesebändchen und ein 140 Seiten umfassender Anhang mit Quellen, Zeittafel zu Leben und Werk von Günter Grass sowie einem Personenregister, das auch in den Texten nur erwähnte Personen einschließt, lässt die Anthologie auch als Nachschlagewerk nutzen.
Einzig kritische Anmerkung dazu bzw. Vorschlag für eine Taschenbuchausgabe: Gerade angesichts seines Eigengewichts würde es die Lektüre dieses Buches erheblich erleichtern, wenn man die Lebensdaten der Autoren sowie deren berufliche und ggf. auch nationale Zuordnungen nicht stets aus dem Personenregister erblättern müsste, wären sie auch den Überschriften zu einem Textbeitrag zumindest gekürzt angefügt.
Zudem sei hier noch ein winziger Fehler wegen seiner prominenten Position ganz zu Anfang angemerkt: auf S. 9 heißt es fälschlicherweise im dritten Absatz, dass Ingo Schulze (* 1962) genau ein Vierteljahrhundert jünger als Grass sei.

Uwe Neumann ist mit seiner Anthologie eine 60 Jahre umspannende Tour d'Horizon gelungen, die nicht nur Ansichten zu Günter Grass und sein Werk, sondern damit verbunden auch kulturhistorische Aspekte über den Tellerrand deutscher Wirklichkeit hinaus im O-Ton vorstellt. Er hat für jedes Jahr eine spannungsreiche und somit höchst kurzweilige Anordnung gefunden, die über mehrere Generationen hinweg nicht nur den ausgewiesenen Literaturliebhaber anspricht und Zugang finden lässt.
Alles gesagt? Nur das noch: ein echtes Lesevergnügen!

Weitere Besprechungen zu Werken von Günter Grass und Sekundärliteratur dazu siehe:
Büchernachlese-Extra: Günter Grass

Buechernachlese © Ulrich Karger


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