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DIE VERÄNDERUNG DES FAMILIENSYSTEMS setzt zuallererst bei den Therapeuten
und deren Ausgangshypothese für das Erarbeiten einer Problemlösung
an. Ein Mensch, der "krankhafte" Symptome
zeigt bzw. sich selbst oder/und von seinem Umfeld als außerhalb
der "Norm" wahrgenommen wird, muß sich nach Alice Miller
als Glied einer langen "traditionsreichen" Kette
sehen, und dabei aber für seine Probleme
alleine verantwortlich bleiben. (Immerhin diskutierte
A.M. in ihrem letzten Buch DER GEMIEDENE SCHLÜSSEL
die Frage der "Schuld" weniger unter dem Aspekt der moralischen
als der ursächlichen Verantwortlichkeit.)
Die lineare Betrachtungsweise kann demnach zwar durchaus
überraschende Rückschlüsse ermöglichen, aber
dennoch reicht die Erkenntnis des Woher und Warum oft
nicht aus, um zu einer grundlegend positiven Situationsveränderung
beizutragen.
Die Familientherapie setzt mit einer systematischen Betrachtungsweise
an: Die positive Veränderung einer verhaltensauffälligen
Person wirkt auch auf die anderen Teilhaber eines Beziehungsgeflechtes.
Es kann sich dabei herausstellen, daß den anderen das krankhafte
Symptom von "Nutzen" war, und sie demzufolge eigentlich
gar kein wirkliches Interesse an einer Änderung
hatten. Sie werden dann alles daran setzen, wieder das
alte homöostatische Gleichgewicht zu reaktivieren, was
den therapierten wieder rückfällig werden läßt.
Die "Familientherapie" lädt deshalb soweit
möglich die ganze Familie und evtl. sogar noch
entfernte Verwandte oder Freunde zu den Sitzungen ein,
um der Art und Wirkungsweise dieses Beziehungsgeflechtes
auf die Spur zu kommen. Auch die Therapiemaßnahmen und Aufgabenstellungen
richten sich nicht nur an die eine auffällige Person,
sondern an alle. Nur so kann sich ein von allen Seiten
getragenes, verändertes Gleichgewicht herstellen und stabilisieren.
Peggy Papp gehört zu einer Reihe namhafter KlinikerInnen,
die aus den praktisch gewonnenen Erfahrungen Rückschlüsse
für eine neue oder zumindest erweiterte Theorie zu diesem Problemfeld
entwickelt haben. Entscheidend ist für sie der nachhaltige
und schnell wirksame Erfolg einer Therapiemaßnahme. Zusammen mit
ihren KollegInnen entwickelte P.P. einen offenbar sehr effizienten
"Trick", einer Familie aus dem zäh
verteidigtem Dilemma der Selbstzerstörung
herauszuhelfen: Das Brief Therapy Project. Nach dem gegenseitigen
Kennenlernen und einer daraus entwickelten Arbeits-und Zielhypothese
benutzt P.P. gerade den schon bei Freud nachzulesenden
präjorativen Widerstand, um das Dilemma überhaupt
erst einmal sichtbar und daraufhin (be)handelbar zu machen.
Das Ganze hat den Anschein eines nach taktischen Regeln
geführten Drei-fronten-Gefechtes: Die zu Therapierenden werden
dem Spannungsfeld widersprüchlicher Spiegelungen
und Aufgabenstellungen ausgesetzt, um eine paradoxe
Reaktion auszulösen. Ein (aus dem Zusammenhang gerissenes!)
Beispiel hört sich dann auch dementsprechend abenteuerlich an:"Wenn
sie sich verändern, müßte G. mit seinen Versuchen
aufhören, die zerrüttete Familie wieder in Ordnung
zu bringen. Durch sein schlechtes Benehmen hält
er Sie ja alle in der altgewohnten Stellung: Die Mutter
in der Stellung der Starken,(..), den Vater in der Stellung des
Schwachen, der ihre Führung braucht, und S. in der Stellung
des vernünftigen älteren Bruders. Das
heißt also, jeder von ihnen müßte sehr
vieles aufgeben. Deshalb glaubt die Gruppe, daß
Sie, Herr Z., lieber weiterhin inkonsequent sein sollten, damit
G. sich die 'Familie von früher' auch in Zukunft zusammenbasteln
kann." (S. 145f.)
P.P. weist nach, daß sie u.a. mit dieser variationsreichen
Methode erstaunliche Erfolge erzielen konnte, wo andere
TherapeutInnen schon aufgegeben hatten. Allerdings - die Fallbeispiele
aus dem, auf der Couch zu liegen, gewohnten USA sind
nicht immer auf unsere Verhältnisse zu übertragen, und
auch P.P. räumt in dem letzten Kapitel Mißerfolge ein, denn:
"Niemals wird man alle Antworten wissen, und niemals
kann man sich der Antworten wirklich sicher sein,
von denen man glaubt, daß man sie besäße."
Diese Therapieform wird wohl kaum die tiefergehende
Analyse ersetzen, aber sie ermöglicht sicher einen
möglichen Einstieg, um die scheinbar unauflöslichen
Dilemmas in einer Beziehung anzugehen und von da an Raum für
weitere Maßnahmen zu ermöglichen. Ohne sperrige Fachworthülsen
ist dieses Sachbuch verständlich aufgebaut und als Diskussionsgrundlage
für jedermensch geeignet und zu empfehlen.