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WIESO KÖNNEN MENSCHEN SPRECHEN?
Bringen Eltern ihren Kindern das Sprechen bei? Hängt das Denken
von der Fähigkeit Wörter zu bilden ab? Ist also das menschliche
Gehirn bei der Geburt ein inhaltsleerer Fleischklops mit den Fähigkeiten
einer universell verwendbaren Lernmaschine?
Steven Pinker leitet als Professor für Kognitionswissenschaft
das Center for Cognitive Neuroscience am Massachusetts Institute of Technology
(MIT), und er beantwortet all diese Fragen mit einem vielleicht überraschenden,
nichtsdestotrotz plausiblen NEIN. Die Kognitionswissenschaft (= die Wissenschaft
von der Intelligenz) ist noch eine relativ junge Fakultät, die sich
von vornherein als interdisziplinär versteht. Sie versammelt unter
anderem Teilgebiete wie experimentelle Psychologie, Linguistik, Informatik,
Philosophie und Neurowissenschaft(siehe auch Howard Gardner:Dem Denken
auf der Spur. Klett-Cotta Verlag. Stuttgart 1989.). Einer ihrer Gründungsväter
ist der Linguist Noam Chomsky, der bereits vor Jahrzehnten die revolutionierende
Grundlagenargumentation für die Instinkthaftigkeit der Sprache entwickelt
hatte. Wenngleich Pinker ebenfalls das "Sozialwissenschaftliche Standardmodell"
nicht ungeschoren läßt, wonach die menschliche Psyche nahezu
ausschließlich von der sie umgebenden Kultur geformt wird, so hat
er sich insofern von Chomsky gelöst, als er dessen zum Teil polarisierende
Argumentationen auf eine breitere und damit versöhnlichere Ebene gestellt
hat.
Wenn nun in Pinkers Buch vom "Sprachinstinkt" die Rede ist,
meint das kein Kind chinesischer Herkunft, das bei seiner Geburt sozusagen
(nur) chinesische Sprachgene mit auf die Welt bringt. Tatsächlich
hängt der Erwerb der "Muttersprache" nicht von der Herkunft,
sondern von der Umgebung des Kindes in seinen ersten Lebensjahren ab. Daß
sich aber jedes Kind derart flexibel auf seine Umwelt einzustellen vermag,
ist unter anderem mit seinem instinktiven Wissen um die Satzstellung eines
Wortes als Subjekt(S), Objekt(O) oder Verb(V) begründet. Müßte
es nämlich zu den einzelnen Wörtern auch noch die jeweilige grammatikalische
Funktion und die daraus folgenden inhaltlichen Verschiebungen erlernen,
würde ihm ein Menschenalter bei weitem nicht ausreichen - und zwischen
"Der Hund beißt einen Mann" und "Der Mann beißt einen
Hund" besteht immerhin ein weitreichender Unterschied. Das Grundprinzip
der Grammatik ist uns Menschen demnach als ein "diskretes kombinatorisches
System" von Geburt an mitgegeben, und nur dieses System erlaubt uns
in der Regel eine geradezu explosionsartige Sprachentwicklung zwischen
dem ersten und dritten Lebensjahr. Deshalb ist es auch völlig egal,
ob ein Kind mit der uns geläufigen SVO-Satzstellung aufwächst
oder in Japan mit einer SOV-Satzstellung. So sehr die vier- bis sechstausend
Sprachen auf unserem Planeten auch differieren, eines haben sie alle gemeinsam:
Sie alle sind grammatikalischen Regeln bzw. einem Bauplan für Phrasenstrukturen
unterworfen, die nach der Geburt von einem Kind nur noch "abgerufen"
werden müssen. Aber damit es zu keinem Mißverständnis kommt,
sei hier noch eines hervorgehoben: Die Aufgabe des "Sozialwissenschaftlichen
Standardmodells" bedeutet für Pinker keineswegs den Rückgriff
"auf eine so widerwärtige Doktrin" wie die vom "biologischen
Determinismus". Auch wenn Menschen allesamt ähnliche Strukturen
haben, so ist doch jede Person nicht nur "biochemisch gesehen einzigartig".
Es geht Pinker dabei nicht um die reine Lust am Widerspruch, sondern um
eine sinnfällige Weiterung unseres Horizonts wenn er ferner sagt:
"So faszinierend genetische Unterschiede zwischen den Menschen auch
für uns sein mögen, wenn es um Liebe, Biographien, Arbeitsleben,
Klatsch und Politik geht, so unerheblich sind sie, wenn wir voller Bewunderung
feststellen, was überhaupt die Intelligenz des Geistes ausmacht."
Kongenial von Martina Wiese ins Deutsche übertragen, begründet
und belegt Pinker in dreizehn Kapiteln seine Thesen auf sachlich hohem
Niveau und dennoch allgemeinverständlich - ein Kompliment, das man
gern auch hiesigen Sach- und Fachbuchautoren öfter machen würde.
En passent referiert er dabei die vergangenen Debatten und den aktuellen
Diskussionsstand der Linguistik beziehungsweise der ihr angrenzenden Disziplinen
innerhalb der Kognitionswissenschaft. Die vielen eindrücklichen Beispiele,
gewürzt mit humorvollen und selbstironischen Anmerkungen, fesseln
denn auch selbst den "nur interessierten Laien" bis zur letzten
Seite.