buechernachlese.de
|
Ljolka lebt bei Großonkel Kirscha und Großtante Gruscha
in einem kleinen Vorort von St. Petersburg. Ihre Mutter hat nur wenig Zeit
für sie, aber das scheint Ljolka nicht viel auszumachen. Die Zieheltern
lieben sie abgöttisch und sind sehr stolz auf Ljolkas Intelligenz.
Vier Jahre alt ist sie erst, aber ihr entgeht kaum etwas. Nicht nur, daß
Ljolka bereits in einer alten Fibel lesen kann und einige englische Wörter
aufgeschnappt hat, sie bekommt auch vieles mit, was eigentlich nur für
die Augen und Ohren der Erwachsenen bestimmt ist. Die vergeblichen Annäherungen
Natalja Andrejewenas an den Buchbinder Chariton Klimowitsch genauso wie
dessen Annäherungen an Großtante Gruscha, nachdem Großonkel
Kirscha an den Folgen jugendlicher Gewalt gestorben ist. Und sie geht dem
Gerücht nach, daß Großonkel Kirscha tatsächlich aus
adligem Hause stammen könnte, so wie er es zeitlebens immer wieder
behauptet hatte. Tante Gruscha stirbt dann kurz nach dem Umzug in die Stadt
zu Ljolka und ihrer Mutter. Ein großer Verlust, der baldige Tröstung
verlangt.
Bereits mit knapp 24 Jahren legt Jekaterina Sadur einen Roman vor,
der den alterstypischen Rahmen autobiographischer Abnabelungen bei weitem
sprengt. Der für die deutsche Leserschaft gewählte Buchtitel
"Das Flüstern der Engel" ist jedoch ein wenig irreführend. Zwar
werden hier auch die Glaubensvorstellungen von Tante Gruscha erörtert,
wonach am Totenbett Engel die Seele eines Sterbenden gegen die finsteren
Mächte der Hölle verteidigen - und in den Augen Ljolkas wird
dies durchaus zu einer beobachtbaren Realität - doch diese Vorstellungen
sind nur eine kleine Facette in dem geheimnisvoll inszenierten Gegenüber
von alter und neuer Weltsicht. Der Orginaltitel "Perelëtnye raboty"
spielt auf das Ladenschild Klimowitschs an, das Buchbindearbeiten anpreisen
will, dem aber in der deutschen Übersetzung die beiden 'B's fehlen.
Ljolka ergänzt die Lücken zu dem Wort "SuchFindearbeiten",
wörtlich übersetzt aber wären das "Überflugarbeiten",
die sich das Kind alsbald zu erklären sucht. Angesichts der sich deutlich
abzeichnenden Schulterblätter von Chariton Klimowitsch gar kein Problem:
Würde seine Haut platzen, kämen zwei Federstutze hervor und er
wäre ein geflügelter Helfer, der anderen Arbeit besorgen könnte.
Ljolkas Geschichte wird zwar aus dem Blickwinkel, aber, abgesehen von
der direkten Rede, keineswegs mit den Worten einer vierjährigen beschrieben.
Die aufmerksame Klarsicht des Mädchens erweist sich als poetisch-rätselhafter
Rückblick auf ein Leben, das nicht zu Ende gelebt werden kann. Die
überschaubaren Strukturen des Vorortes mit einem Personal, das auch
bei Tolstoi oder Dostojewski Platz gefunden hätte, sind in Auflösung
begriffen. Angesteckt von dem brutalisierten Nebeneinander in der Großstadt,
wird bereits auch hier die Würde des Einzelnen wie die der Gemeinschaft
angetastet. Hannelore Umbreit hat den Text offenkundig hervorragend ins
Deutsche übersetzt und der unverstellten Wahrnehmung des Ist-Zustandes
einen melodischen Klangteppich unterlegt: Kindliche Liebe, die bei aller
Egozentrik mehr will und kann, als die der Erwachsenen - und die stets
eines allzufrühen Todes sterben muß. Nur Kinder hören das
Flüstern der Engel, und so wird das Wegfegen des Alten zugunsten des
scheinbar besseren Neuen zum Trugschluß.
Diese nahezu archetypische
Geschichte lädt in ihrer wunderbar flüssigen Sprache zum wiederholten
Lesen und zur steten Neuinterpretation ein.