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"Schon wieder! Was soll denn das jetzt? Einmal muß doch Ruhe
damit sein!"
Aber gerade jetzt, nachdem die historischen Stunden des Vereinigunstaumels
brutal ins sattsam Gewohnte von Verlierern und Siegern eines uralten Spieles
namens "Faustrecht" abgewickelt werden, kann vielleicht nur noch
die Erinnerung ans Vergangene helfen, mit der Gegenwart später einmal
ins Reine zu kommen.
Ein Bremer macht mit seiner Freundin in Italien eine Fahrradtour und
gerät in eine für Deutsche beklemmend fröhliche Veranstaltung:
Ein Volkslauf zu Ehren von einhundert Geiseln die nach einem Partisanenangriff
in Sabbiuno hinter der sogenannten "Gotenlinie" erschossen worden sind.
Das Wort "Zufall" leitet sich von "zufallen" ab, und
da der Historiker Christoph U. Schminck-Gustavus offensichtlich keiner
der üblichen Schreibtischtäter seines Faches ist, "fällt"
ihm bei dieser Gelegenheit, wo andere peinlich berührt schleunigst
eine weniger belastete Sehenswürdigkeit aufgesucht hätten, die
Bekanntschaft mit Gigina Querzé "zu". Nachdem diese Frau
erfahren hatte, daß er aus Bremen stammt, lädt sie, Jahrgang
1914, den verlegen seine Interessensgebiete aufzählenden jungen Deutschen
zu sich und ihrem Mann nach Hause ein. "Dann können wir weiterreden."
"Zufällig" spricht und versteht Schminck-Gustavus offenbar
auch sehr gut italienisch, so daß er bald eine Lebensgeschichte anvertraut
bekommt, die bisher noch keinem historisch relevant erschienen ist.
Attilio und Gigina wohnen am Stadtrand von Bologna. Der Tisch biegt
sich von den aufgetragenen Speisen.
"Noch während wir am Tisch sitzen, fängt Attilio plötzlich
an zu sprechen, ohne Vorankündigung, ohne Einleitung, ohne Punkt und
Komma. (..) Von Zeit zu Zeit bemerke ich ein sonderbares Schwanken in seiner
Stimme, das ich nicht verstehen kann, bis ich begreife, daß er beim
Reden weint."
Am 8. September 1943 wurde Attilio als gewöhnlicher Soldat auf
Elba von den Deutschen gefangen genommen. Wegen der früheren "Kriegskameradschaft"
zwischen Deutschland und Italien bzw. zwischen Hitler und Mussolini unterliefen
die Deutschen das Statut für Kriegsgefangene, indem sie aus den Italienern
"Internierte" machten, die keiner internationalen Kontrolle unterlagen.
Attilio "verschlägt" es nach Bremen, wo er in verschiedenen
Lagern zweiundzwanzig Monate überleben mußte. Für Schminck-Gustavus
waren einige Angaben Attilios völlig neu. Fast war er schon geneigt,
diesen Angaben keinen Glauben schenken zu können, doch plötzlich
finden sich Unterlagen, die Attilios Aussagen bekräftigen, ja, er
findet sogar eine Zeitzeugin, die sich an Attilio erinnert, die sich überhaupt
erinnern kann, da sie auch schon damals zu unspektakulärer Hilfeleistung
fähig war.
Work in progress - ein Geschichtsbuch, das sich aus den Geschichten
eines alten Ehepaares in Bologna entwickelt, denn natürlich war zu
Hause Gigina mit ihrem kindergelähmten Sohn ebenfalls vom Krieg, von
den Deutschen "betroffen". Die grauen Alltagsgeschichten von Widerstand
und Kollaboration, Heldentum und Überlebenskunst erschließen
eine in Deutschland kaum noch bekannte "Randgeschichte", denn das,
was Attilio mit tausenden anderen Italienern erleben mußte, war im
Vergleich zu den Millionen Ermordeten in den Konzentrationslagern "nur
noch" schrecklich.
DIE SCHÖNSTEN JAHRE von Gigina und Attilio wurden im J.H.W. Dietz
Verlag geradezu liebevoll u.a. mit Kunstdruckpapier und vielen Fotos ausgestattet
- die nötige Referenz für ein wunderbar zusammengestelltes Geschichts-
und Geschichtenbuch.