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Eine sachlich unaufgeregte Auseinandersetzung über das, was Religionen Sinnstiftendes zu leisten in der Lage waren und sind, scheint kaum noch möglich. Doch sind die allseits bekannten Nebenwirkungen der Religion, wie z.B. der bis in die jüngste Zeit belegte Machtmissbrauch von religiösen Amts- und Würdenträgern tatsächlich mehr als ein wohlfeiles Totschlagargument, um einer Auseinandersetzung mit Religion und ihren unterschiedlichen Ausformungen aus dem Weg zu gehen?
Der ZEIT-Wissenschaftsredakteur Ulrich Schnabel, der nicht Theologie oder Philosophie sondern Physik studiert hat, verlässt in "Die Vermessung des Glaubens" die ausgewalzten Pro- und Contradiskussionen und stellt stattdessen Fragen, die wissenschaftlich fundierte Antworten erlauben.
Ob Gott existiert oder nicht, ist nicht zu beweisen, aber was hat es zum Beispiel mit den Wunderheilungen auf sich? Oder wie wirkt sich der Glaube im Alltag aus? Sind gläubige Menschen hilfsbereiter als nichtgläubige? Und wenn ja, warum und inwiefern? Wie steht es um das Phänomen einer spirituellen "Erleuchtung", was bewirken Meditationen? Wie und wann begann das religiöse Denken beim Menschen? Und warum ist Religion überhaupt noch ein Thema, auf das sich durchaus respektable Personen einlassen? Hätten Religionen nicht längst "ausgestorben" zu sein?
Für solche und weitere Fragen vergleicht Schnabel die Aussagen u.a. von Religionspsychologen und Neurotheologen und stellt sie Experimenten von Hirn- und Kognitionsforschern gegenüber, die z.B. anhand Computer- und Kernspintomografen aufzeigen, wie Gebete und meditative Praktiken die neuronale Aktivität des Gehirns verändern, und was das nun beweist und was nicht.
Überschrieben sind die sieben Kapitel seines Werkes mit "Die Medizin des Glaubens", "Zwischen Nächstenliebe und Fanatismus", "Hirnforschung und Transzendenz", "Wie das religiöse Denken begann", "Die Evolution des Glaubens", "Zwischen Mystik und Ratio" und "Die religiöse Dimension", die sich dem nähert, was "Seele" genannt wird.
Unterbrochen werden die in sehr eingängiger Sprache gehaltenen und umfassend recherchierten Erörterungen Schnabels durch Interviews mit dem Hirnforscher Wolf Singer, dem Astronomiehistoriker Jürgen Hamel, der Landespastorin Annegrethe Stoltenberg und dem Psychiater und Mystikforscher Arthur Deickmann. Und gleich zu Anfang lädt Schnabel die Leserschaft auch noch zu "Gretchenfragen" ein, die ein nicht allzu bierernst gemeintes Licht auf eigene Glaubensvorstellungen zu werfen helfen vermögen.
Noch vor dem Anhang mit seinen weiterführenden Anmerkungen, einem Literaturverzeichnis und dem Personenregister verhandelt Schnabel in seinem Epilog zuletzt die Frage "Darf über Religion gelacht werden?". Diese Frage kann als Lackmustest für alle Religionen gelten und ermuntert auch immer wieder, vor der eigenen Haustür zu kehren - z.B. gerade in Anbetracht der entlarvend unterschiedlichen Reaktionen seitens hiesiger Politiker und Kirchenvertreter auf die "Mohammed-Karikaturen" und die Zeichentrickserie "Popetown".
"Die Vermessung des Glaubens" bietet also eine längst fällige Tour d'Horizon, die höchst anregend und im wahrsten Sinn des Wortes aufklärend so mancher Unterschätzung wie auch Überschätzung von Religion und ihren jeweils sehr differenziert zu betrachtenden Anhängern Paroli zu bieten vermag. Und damit bildet dieses Werk eine hilfreiche Grundlage, um neue, Gräben überwindende Auseinandersetzungen um etwas zu führen, deren Rituale und Gemeinschaftsbildungen uns nach letzten Erkenntnissen der Verhaltensforscher als Einziges noch von den Tieren unterscheiden lässt.