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In Tel Aviv wird Mojsche Schuster zu einer Sendung über Janusz
Korczak und sein Waisenhaus eingeladen. Aber Mojsche Schuster lehnt ab,
er will mit niemanden reden, schon gar nicht über Korczak und sein
Waisenhaus in Warschau. Als jedoch wenig später in Radio Tel Aviv
ein Lied von Mordechaj Gebirtig erklingt, ist der alte Mann kurz vor einem
Zusammenbruch und er kann sich seiner Erinnerungen nicht mehr erwehren.
Das Lied handelt von einem Mädchen namens Rejsele, und eine Rejsele
sang dieses Lied auch 1939 als Mojsche in jenes Waisenhaus von Janusz Korczak
kam. Mojsche und Rejsele waren damals dreizehn Jahre alt und sich bald
in kratzbürstiger Haßliebe zugetan. Mojsche erschienen die Gepflogenheiten
im Waisenhaus völlig verrückt und dieses ewig freundliche Getue
der als seiner Betreuerin verpflichteten Rejsele unerträglich. Die
gewaltfreie aber dennoch subtil wirksame Autorität Korczaks traf lange
Zeit auf seinen pubertären Widerstand. Nach dem Ablauf eines jüdischen
Jahres im Herbst 1940 betrachtete Mojsche das Ganze dann immerhin schon
mit einer Art dankbaren Skepsis. Nun wollte er auch Rejsele seine Liebe
gestehen, trat aber immer wieder in selbstaufgestellte Fettnäpfchen.
Als es ihm schließlich gelang, trennten sich ihre Wege - scheinbar
unwiderruflich. Mojsche ging als jugendlicher Kurier in den Widerstand,
Rejsele blieb bei Korczak und den Kindern.
Der Arzt und Kinderbuchautor Janusz Korczak war schon zu Lebzeiten
eine Ikone polnischer Reformpädagogik. Sein Einsatz für verlassene
Straßenkinder und Waisen fand weltweite Anerkennung. Ein Fanal der
Liebe und Loyalität zu den von ihm betreuten Kindern setzte er, als
er sie freiwillig auf den mörderischen Gang in das KZ Treblinka begleitete
und mit ihnen dort gemeinsam umkam.
Die niederländische Autorin Karlijn Stoffels hält Rückschau
auf diesen großartigen Mann, ohne ihn zur Hauptfigur ihrer anrührenden
Liebesgeschichte zwischen "Mojsche und Rejsele" zu machen. Der Blick des
jugendlichen Mojsche kratzt vielmehr an dem Sockel eines Denkmals, das
nur allzuleicht die Erinnerung an den Menschen dahinter gefährdet
und ihn so in falscher Vollkommenheit erstarren läßt. So wußte
auch Korczak nie auf alles gleich eine Antwort und auch dann nicht immer
eine richtige, aber in seiner Haltung und seinem Bemühen war er den
meisten Pädagogen dieser Generation eben um Jahrzehnte voraus. Das
erlaubte Mojsche auch, sich nicht verbiegen zu müssen und seinen eigenen
Weg zu gehen. Es ist der Weg eines dreizehn-, vierzehnjährigen, der
wie andere Jugendliche seines Alters, gegen alles Erwachsene, Regelhafte
in Stellung geht und sich zugleich mit einem sich verändernden Körper,
erwachender Sexualität sowie den widersprüchlichen Gefühlen
gegenüber dem anderen Geschlecht auseinandersetzen muß. Diese
bekannten Probleme werden in jener lapidaren Abgeklärtheit geschildert,
die auch, brillant von Mirjam Pressler übersetzt, auf deren Situationskomik
abzuheben weiß. Die Identifikation mit dem fiktiven Mojsche fällt
von daher nicht schwer und erleichtert wiederum die Auseinandersetzung
mit den historisch belegten Auswirkungen der Judenverfolgung in Warschau.
Es geraten die grotesken Brutalitäten der deutschen Besatzer in den
Blickpunkt, aber auch die vermeintlich selbstauferlegte Wehrlosigkeit der
Juden - etwas, womit selbst Israelis von heute noch nicht klarkommen. Letzte
Antworten kann es darauf nicht geben, aber das Gegenüber in Karlijn
Stoffels Debutroman ist auf mitreißende Weise anstößig
und hält das heilsame Fragen auch in der nächsten Generation
wach.