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Jonathan Harker reist als Rechtsanwalt im Auftrag seiner Londoner Kanzlei mit der Eisenbahn nach Siebenbürgen bzw. Transsilvanien. Es gilt, mit einem gewissen Grafen Dracula die weiteren Modalitäten hinsichtlich des zuvor von ihm in London erworbenen Hauses abzuklären. Für den vorletzten Abschnitt seiner Reise nutzt Harker eine Postkutsche, um dann in der Nacht an einem Pass von einem Kutscher abgeholt und unter schaurigem Wolfsgeheul zur Burg des Grafen gefahren zu werden. Dort angelangt, verlaufen die ersten Tage aber noch ohne weitere Vorkommnisse. Harker wird lediglich gebeten, einige Räume nicht zu betreten. Ein erstes nachdrückliches Unbehagen stellt sich ein, als Harker bemerkt, dass, wiewohl der Graf hinter Harker steht, nichts von ihm in seinem Rasierspiegel zu sehen ist und als Harker sich dem Grafen zuwendet, der Graf angesichts Harkers kleiner Schnittverletzung doch einen recht außergewöhnlich gierigen Gesichtsausdruck zeigt …
Im Original von Bram Stoker bereits 1897 vorgelegt, erschien die erste deutsche Übersetzung von "Dracula" erst 1908, der laut Wikipedia noch sechs weitere folgen sollten. Die letzte von Andreas Nohl erschien 2012 und wurde nun zehn Jahre später noch einmal "durchgesehen" neu aufgelegt.
Wer sich auf die Lektüre dieses Romans einlässt, muss sich auf eine ambivalente Leseerfahrung gefasst machen. So zeichnet sich dieses Opus Magnus von Bram Stoker aus durch eine für 1897 sehr moderne Montage von Briefen, Telegrammen, Memoranden, Zeitungsartikeln, einem Logbuch sowie last, but not least von Tagebuchaufzeichnungen der drei Protagonisten Jonathan Harker, seiner späteren Ehefrau Mina Harker (geb. Murray) und des Psychiaters Dr. John Seward. Und Andreas Nohl versteht es als Übersetzer hier sehr gut, die Balance zwischen Texttreue und heutigen Lesegewohnheiten zu halten, so dass der Roman über weite Passagen eine erstaunlich leicht eingängige Lektüre erlaubt. Zudem steht dem Vampirmythos durch die genannten drei Hauptpersonen auch ganz gezielt eine modern anmutende Skepsis gegenüber, die von den seinerzeit neuesten Produkten der Technik konnotiert wird - neben Eisenbahn und Telegrammen, ist das auch ein Phonograph für Tonaufnahmen bzw. Diktate. Dazu noch medizinische und psychiatrische Erkenntnisse auf dem neuesten Stand - wenn auch seitens Stoker nicht immer fehlerfrei wiedergegeben.
Weit schwerer als derartige Fehler wiegt allerdings das sich in dem Roman durchziehende Frauenbild, das bis zur letzten Seite die Schonung und Rücksichtnahme der weiblichen Hauptperson Mina Murray bzw. Harker "verlangt" - das ist zuweilen nur unter dem Vorzeichen erträglich, das hieraus auch viel unfreiwillige Komik abzuleiten ist. Fairerweise muss allerdings eingeräumt werden, dass Mina Harker trotz der behaupteten geschlechtsbedingten Einschränkungen als nicht nur schön und liebenswert wahrgenommen, sondern ihre Vorschläge und Anmerkungen gerade auch von Van Helsing wiederholt als äußerst intelligent und scharfsinnig eingeschätzt werden.
Was diese von Andreas Nohl nicht nur als im Wortsinn ausgezeichneter Übersetzer, sondern darüber hinaus auch als Herausgeber besorgte Neuausgabe so bemerkens- wie empfehlenswert macht, ist der Anhang mit einem instruktiven Nachwort Nohls sowie seine über 25 Seiten ausgebreiteten Anmerkungen, die jeweils auf eine konkrete Seite im Text bezogen Erhellendes zu Form und Inhalt einer Aussage vorstellen.
Ausgestattet als gebundenes Buch mit Leineneinband und Lesebändchen kann (und sollte) man damit sich und anderen ein in jeder Hinsicht ansprechendes Geschenk machen.