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Hannes hält es bei seiner ständig betrunkenen Mutter nicht
mehr aus und geht freiwillig ins Heim. Er will dort seinen Hauptschulabschluß
machen und später Afrika bereisen. Vielleicht findet er bei der Gelegenheit
auch seinen Vater wieder, der in verschiedenen Ländern dieses Kontinents
immer wieder "auf Montage ging".
Dann sind aber auch im Heim die ständigen Schlägereien und
Erpressungen nicht mehr auszuhalten. Drei Wochen vor Schulende flieht Hannes
und trampt nach Dortmund. Nach einer Serie von Fehlschlägen wird ihm
von Karol und seiner Tochter Ida Familienanschluß und sogar so etwas
wie eine Ausbildungsstelle angeboten.
Karol ist "Greifer", ein gewaltloser Gentleman-Taschendieb der
alten Schule, und Hannes wird sein Lehrling und Partner, indem er für
die nötigen Ablenkungsmanöver sorgt. So gut sich das auch erst
einmal anläßt, ist dieses Leben nicht nur von der relativ kleingehaltenen
Gefahr des Erwischtwerdens bedroht. Karol leidet immer öfter unter
Rheumaanfällen in seiner Hand, Ida ist auf Heroinentzug, und schließlich
lernt Hannes Sylvie kennen, deren vermögende Mutter Karol und er erst
kürzlich "abgegriffen" haben ...
So aberwitzig sich der Plot dieser Geschichte auf den ersten Blick
auch anhören mag, Ralf Thenior hat es verstanden, ihm sehr viel Authentizität
zu verleihen. Die Gratwanderung zwischen gesellschaftlicher Anpassung und
Abrutschen in kriminelle Milieus scheint zum Jugendalter zu gehören,
wie das Aufatmen irgendwann später, wenn man diese Zeit halbwegs unbeschadet
überlebt hat. Und angesichts einer Gesellschaft, die diese Altersgruppe
immer mehr sich selbst überläßt, nehmen ihre Gefährdungen
in erschreckender Weise zu.
Ohne den moralinsauren Zeigefinger zu erheben, werden in diesem Buch
Grauzonen ausgeleuchtet. Auch hier zählt der Einzelne und läßt
sich nicht automatisch für ein Ganzes vereinnahmen.
Thenior spielt in "Greifer" jedoch ein wenig mit Klischees und Erwartungshaltungen.
Der Ich-Erzähler Hannes landet nicht, wie lange Zeit zu befürchten,
in einer Sackgasse, sondern bleibt bis zuletzt unterwegs. Er ist ein Kämpfertyp,
der trotz schlechter Vorgaben ein Ziel vor Augen hat und es nicht aufgibt.
Es stellen sich ihm neben den Fragen nach dem nackten Überleben auch
solche nach dem Verantwortungsgefühl für andere. Und dann ist
da noch eine wunderbar nachzuvollziehende Liebesgeschichte, die eben nicht
ins phantastische 'Happy End' überzogen wird.
Sprachlich in guter Verfassung, bleibt die Tonlage dieses mitreißenden
Buches nicht nur dank einzelner typischer Phrasen bis zuletzt glaubwürdig.