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Inanna ist äußerst eigenwillig und lässt sich von keinem etwas vorschreiben. Selbst dem Gesetz des Todes, wonach wer einmal das Totenreich betritt, nie wieder zu den Lebenden zurückkehren kann, meint die Göttin ein Schnippchen schlagen zu können. Denn über das Totenreich herrscht ihre Zwillingsschwester Ereszigal. Doch Ereszigal denkt gar nicht daran, Inanna einfach wieder gehen zu lassen - außer ein anderer nimmt künftig jeweils für ein halbes Jahr ihren Platz im Totenreich ein ...
Die Wurzel aller uns bekannten Mythen scheinen nach derzeitigem Stand der Wissenschaft die Sumerer in Vorderasien gelegt zu haben.
So wurde, lange vor dem Götterpantheon des antiken Griechenlands, u.a. Inanna als Liebes- und Kriegsgöttin sowie als Schutzherrin der Stadt Uruk verehrt. Von dem Inanna-Mythos sind zwar nur noch Fragmente überliefert, doch augenscheinlich sind daraus später u.a. die Erzählfäden zu den Sagen um Demeter und Persephone gesponnen worden, die den Wechsel zwischen den "toten" Jahreszeiten Herbst und Winter und den "lebendigen" Jahreszeiten Frühling und Sommer erklären sollen.
Dass die Nacherzählung von Mythen eine so erhellende wie hohe Kunst sein kann, ist nicht zuletzt bei Karl Kerényi nachzulesen - aber was die polnische Autorin Olga Tokarczuk mit ihrem Werk "AnnaIn in den Katakomben" geleistet hat und dank Esther Kinsky nun auch als deutsche Übersetzung gefeiert werden kann, ist schlicht sensationell.
Auf der Grundlage einer nicht zuletzt in ihrem Nachwort erwiesenen Durchdringung und äußerst instruktiven Zusammenfassung dieser Thematik, entfaltet sie nun eine in sich geschlossene Erzählung und schlägt mit ihr zugleich eine mehrere Jahrtausende überwindende Brücke zu Gegenwart und Zukunft, indem sie den Mythos in das Szenario einer düsteren Fortschreibung von Stadt verlegt. Das allein könnte womöglich noch als geschickter Kunstgriff unterbewertet werden, wäre da nicht auch noch diese Sprache, die ihre Prosa wie einst die Hexameter-Gesänge zum Klingen bringt.
In dieser wunderbar ausgereiften Form ist nun eine weibliche Gottheit (wieder) zu entdecken, die ihren Sitz in dem heute krisengeschüttelten, weil von patriarchalischer Macht besessenen Irak hatte. Die Antwort auf diese Ironie des Zufalls liefert Olga Tokarczuk gleich mit, wenn sie sinngemäß im letzten Satz ihres Nachwortes ausführt, sich mit Mythen auseinanderzusetzen, meint am Ende auch die Chance, sich selbst verstehen zu lernen ...