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Von einem Katamaran aus unternimmt Luise mit ihren Freunden einen Tauchgang. Sie wollen einen nur noch mit seiner Spitze aus dem Wasser ragenden Wolkenkratzer von Jakarta erkunden. Der Zustand des verrotteten Gebäudes ist alles andere als vertrauenswürdig und auch die skelettierten, vor dem Eingang herumtreibenden Wasserleichen sind nicht gerade erbaulich. Aber egal, Luise zählt Ende des 21. Jahrhunderts zu der nicht nur medizinisch bestens versorgten Elite der Menschheit, die zudem sehr leicht zwischen realer und VR-Umgebung wechseln kann.
Alle anderen hingegen, die so genannten "Überflüssigen" sind meist ihr Leben lang in Eisenbahnzügen unterwegs, um auf niedrigem Niveau beschäftigt zu werden und dafür Nahrung zu erhalten. Einer davon war James. Er hat es jedoch immerhin zum Hausdiener gebracht und lebt deshalb im direkten Umfeld der Elite. Selbstverständlich übernimmt er dann auch ohne Widerrede den Auftrag seines Herrn, dessen vor zwanzig Jahren nach einem Tauchgang verschollene Tochter zu suchen. Und zwar in einer virtuellen Simulation der Ereignisse von damals …
Benjamin Krämer, geboren 1986 in Hameln, hat unter seinem Pseudonym Joshua Tree mit "Singularity" ein Science-Fiction-Thriller über eine Zukunft mit künstlicher Intelligenz (KI) bzw. einer "technologischen Singularität" vorgelegt.
Laut Wikipedia entstammt der Begriff "technologische Singularität" der Zukunftsforschung, die darunter nicht zuletzt einen hypothetisch zukünftigen Zeitpunkt versteht, an dem künstliche Intelligenz die menschliche Intelligenz übertrifft. Und im Anschluss daran wäre der durch diese "Superintelligenz" bedingte technische Fortschritt irreversibel bzw. durch Menschen nicht mehr aufzuhalten.
Im Wechsel dreier Perspektiven gelingt dem jungen Autor eine durchgehend in sich plausibel erscheinende wie auch spannungsgeladene Entfaltung dieser Theorie.
So kommen neben James auch noch Rhea mit ihrer Schwester Phoebe vor, die in einer Versuchskolonie als Psychologinnen das Leben auf dem womöglich demnächst von Menschen zu besiedelnden Exoplaneten Proxima b als virtuelle Realität simulieren, sowie Adam, der als Zwölfjähriger mit seiner Mutter und seiner Freundin Utah in einem alten Zug durch eine postapokalyptische Landschaft zuckelt, um ihren Arbeitseinsätzen nachzukommen - bis ihre Dienste nicht mehr benötigt werden und sie mit einem todbringenden Alptraum konfrontiert werden. Adam kann jedoch fliehen und setzt all seine Hoffnung auf seinen verschwundenen Vater, der angeblich im fernen New York für die reiche Oberschicht arbeitet …
Die alsbald unweigerlich aufkommende Frage, inwieweit hier überhaupt noch etwas einer "echten Wirklichkeit" entspricht, gemahnt in keineswegs epigonaler Weise auch an den SF-Klassiker "Simulacron-3" von Daniel F. Galouye (verfilmt als "Welt am Draht" von Rainer Werner Fassbinder) - nicht nur weil Tree besagte Frage über unsere Gegenwart hinaus mit einer seit den 1960ern weit fortgeschrittenen Technologie und dem bereits heute absehbaren Klimawandel unterfüttert hat.
Ohne die seit 2015 von dem Autor in großer Zahl veröffentlichten SF-Titel zu kennen, dürfte ihm mit "Singularity" wohl (s)ein erstaunliches Opus Magnum gelungen sein, das bis zur letzten Seite unterhält und auch noch darüber hinaus nachdenklich zu stimmen vermag. Unabhängig von seinem anglisierten Pseudonym kann man also durchaus darauf gespannt sein, nicht ob, sondern wann auch der angelsächsische Sprachraum auf diesen Roman aufmerksam wird.
Jedenfalls für Liebhaber des Genres unbedingt lesenswert!