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Hans-Stephan, der sich aber nur Stephan rufen lässt, ist Akademischer Rat in Berlin, der sich auf einer halben Stelle mit Lehr- und Verwaltungsaufgaben im Bereich Deutsch als Fremdsprache zu beschäftigen hat. Anfang fünfzig plagen ihn erste Herzrhythmusstörungen und das Gedenken an seinen Vater, der bereits mit 54 wegen seines kranken Herzen gestorben ist. Bilanzgelüste drängen sich auf. Eine Auszeit von der angeheirateten Familie wird genommen. Zudem war Stephan vor längerer Zeit ein großer Erfolg mit einer Erzählung beschieden, die seine Kindheit mit dem Phantom eines erst für tot, dann für vermisst erklärten Bruders schilderte. Mit diesem Buch wollte Stephan sein Trauma eigentlich "loswerden", hat stattdessen damit aber Geister bzw. begeisterte Leser auf den Plan gerufen, die selber Geschwister vermissten oder Findelkind waren - mithin vielleicht sogar der gesuchte Bruder von Stephan? Einer ist besonders hartnäckig ...
Nach der Essaysammlung "Der Felsen, an dem ich hänge" nun gleich der zweite Streich von Hans-Ulrich Treichel in Form eines Romans. Eines Romans? Zwar in der dritten Person und mit den lesefreundlich groß gehaltenen Zeilenabständen ein wenig umfangreicher, erzählt der Autor doch ähnlich linear wie in dem hier kenntlich gemachten früheren Werk "Der Verlorene". Ja es behandelt letztlich sogar dasselbe Sujet und die gleichen Fragen - nur eben aus einer anderen Perspektive. Wird sein Ich-Erzähler noch von seiner Kindheit "umgetrieben", schwimmt im lakonisch schwarz-galligen Lamento furioso sozusagen auf Augenhöhe seiner Erinnerungen mit, geht es Stephan weniger um Auf- als um Ablösung von dieser Geschichte. Eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit - doch hierin könnte das Romanhafte von "Menschenflug" begründet sein. Der Titel nimmt den einer Knaben-Plastik im Steglitzer Lilienthalpark auf, die an den tragisch geendeten Flugpionier erinnern soll. Die zwar nahe liegende und doch so unsinnige Frage nach dem Autobiographischen einer Erzählung wurde von Treichel bereits in der Essaysammlung hinreißend glossiert - und dieser Roman führt sie endgültig ins Labyrinth aussichtsloser Vermutungen.
Nur eines scheint gewiss: Treichel ist gewiss nicht mit dem Stephan dieses Romans zu verwechseln. Zum Glück. Leider. Denn Stephans Ende wirkt wie das mit dem Bade ausgeschüttete Kind. In sich völlig schlüssig, ist es ein Ende mit dem Verrat an einer Figur, die doch einmal ihr Ich sehr gut gespürt hat. Doch von ihr, nicht von sich, wollte sich Treichel jetzt endgültig freischreiben. So konnte nicht Stephan mit entsprechender Gelassenheit alt und älter werden, sondern die fiktive Abspaltung in die Ehefrau Helen, die als Psychologin Zeichen setzen darf und dem Ganzen, also auch Stephan zuweilen einen lakonischen Spiegel vorhält.
Ein bisschen wie Jammern auf hohem Niveau wirkt das - wie viele Autoren wären nicht froh, wegen einer Geschichte sich einmal derart behelligt fühlen zu dürfen.
Ohne Vorkenntnis der anderen Werke ist "Menschenflug" in seiner zwischen Melancholie und Genervtsein changierenden Midlife-Crisis-Tristesse - ganz nett. Zwischendurch blitzt Treichel auch darin als brillant genauer Situationsbeobachter auf und weiß das Zwerchfell zu rühren.
Aber ein Muss, wie z.B. die Essaysammlung, ist es leider nicht geworden. Vielleicht sollte der Autor sich jetzt wirklich mal eine Auszeit nehmen und einen ganz anderen, neuen Ansatz versuchen ...
Weitere Besprechungen zu Werken von Hans-Ulrich Treichel siehe:
Büchernachlese-Extra: Hans-Ulrich Treichel