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Der Ich-Erzähler in Hans-Ulrich Treichels neuestem Werk schildert
einmal mehr eine Kindheit zwischen den 50er und 60er Jahren in einer deutschen
Kleinstadt. Die Eltern mußten Ende des Krieges aus den Ostgebieten
flüchten und haben dabei seinen älteren Bruder verloren. Erst
hieß es noch, dieser Bruder sei während der Flucht verhungert,
dann stellt sich heraus, daß er bei einem Überfall russischer
Soldaten in die Hände einer unbekannten Frau gegeben und dann nicht
mehr wiedergefunden worden ist. War der jüngere anfangs noch stolz
auf seinen toten Bruder, wird der nun mit allen Mitteln gesuchte Bruder
zu einer Bedrohung. Der einzige Vorteil jetzt, die zuvor diffus drückende
Athmosphäre steht nun unter klar benennbaren Vorzeichen. Die Eltern
fixieren sich schließlich auf ein Findelkind mit der Nummer 2307,
das offenbar Ähnlichkeiten mit dem jüngeren aufweist. Der Erzähler
erhält nun sogar eine gewisse Aufmerksamkeit, jedoch nur, um bei den
vergleichenden Untersuchungen die Forderung nach diesem Konkurrenten zu
unterstreichen.
Zwischen 1950 und 1960 geborene sowie über den Kanon hinausschauende
Leser dürften an diesem Werk in jedem Fall ihr schwarzgalliges Vergnügen
finden. Treichel hat hierin die Lakonie zur Meisterschaft gebracht. Wie
sprachfertig und mit welch hintersinnigen Assoziationsketten er die Protagonisten
jener Zeit mit- und aneinander vorbeileben läßt, sucht ihresgleichen.
Seine Erzählung über Phantomgeschwister und Wirtschaftswunderrituale
ist von einer hellsichtigen Tragikomik, die verzweifelte Kinder überleben
läßt. Sie hilft etwas benennen, was vorher unsäglich war
und ist der erste Schritt zur ernsthaften Trauerarbeit über eine unwiderbringlich
verdorbene Kindheit.
Weitere Besprechungen zu Werken von Hans-Ulrich Treichel siehe:
Büchernachlese-Extra: Hans-Ulrich Treichel