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Judith Kerr (1923-2019), nur drei Wochen vor ihrem 96. Geburtstag verstorben, konnte nicht nur auf ein sehr langes, sondern auch auf ein sehr ereignisreiches Leben zurückblicken. Sehr große Bekanntheit erlangte sie auch in Deutschland spätestens ab 1973 mit dem aus dem Englischen ins Deutsche übersetzten Buch "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl". Es wurde u.a. 1974 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet und war jahrzehntelang Teil des Pflichtkanons für Schullektüren, wenn es um die Exil-Geschichte deutscher Juden ging.
Erstaunlich, dass erst "jetzt", knapp drei Monate nach ihrem Tod, eine Biografie zu ihr vorgelegt wurde.
Und bedauerlich, dass, was wirklich äußerst selten passiert, nun gerade dieses Buch mir erst ein dreiviertel Jahr nach seinem Erscheinen als Rezensionsexemplar zugestellt werden konnte! Immerhin ist der "Schaden" nicht allzu groß, da das Interesse an diesem Titel nicht zuletzt auch wegen seiner Qualität weit länger anhalten dürfte, als an so manch anderem …
Astrid van Nahl, u.a. als skandinavistische Mediävistin Autorin von Standardwerken für das Altisländische und daneben auch Begründerin und Chefredakteurin des auf Kinder- und Jugendliteratur spezialisierten Onlinemagazins Alliteratus.com, hat mit "Judith Kerr - Die Frau, der Hitler das Kaninchen stahl" eine wunderbar eingängige, als "erzählendes Sachbuch" konzipierte Biografie vorgelegt, die maßstabbildend für andere sein könnte, nein, sollte.
So gehört bei ihr zur im ausführlichen Anhang nachvollziehbar unerlässlich tiefschürfenden Recherche auch ein hohes Maß an Transparenz, das nicht zu eruierende "Leerstellen" in Judith Kerrs Biografie nicht durch Spekulationen ausfüllt, sondern sie schlicht als solche benennt.
Ergänzt um 20 Schwarz-weiß-Fotos, folgen auf das neugierig machende Vorwort die vier Teile "Eine Kindheit in Berlin (1923-1933)", "Im Exil (1933-1945)", "Nach dem Krieg (1945-1970)" und "Schriftstellerin und Zeichnerin (1970-2019)", die wiederum jeweils in vier bis fünf Kapitel gegliedert sind.
Eingebettet sind die biografischen Details jeweils für Zeitraum und Ort bzw. Land auch sachkundig fundiert in die jeweilige gesamtgesellschaftliche Historie. So breitet van Nahl im ersten Kapitel auf knapp acht Seiten auch erst das politische und kulturelle Vorfeld ab 1919 aus, in das Judith Kerr 1923 "hineingeboren" wurde und neben den Vorzeichen für den Nationalsozialismus eben auch die "Goldenen Zwanziger" eingeläutet hat. Gleich das nächste Kapitel hat Alfred Kerr zum Schwerpunkt, der 1923 mit 56 Jahren zum zweiten Mal Vater wird und da ein längst anerkannter, d.h. auch gefürchteter Literatur- und Theaterkritiker ist. Die Zusammenschau seiner Herkunft und seines Werdegangs liest sich genauso spannend, wie seine Eintragungen zum Familienleben und insbesondere auch zu seiner "Puppi" anrühren. Darunter jenes "Papi, es ist herrlich, ein Flüchtling zu sein", das Judith mit Blick über die Dächer von Paris 1933 zitiert. Es ist gleichsam ein Kulminationspunkt, in dem den Eltern Judiths bestätigt wird, dass sie ihr trotz aller Gefährdungen lange Zeit ein hohes Maß an Zusammengehörigkeits- und daraus resultierendes Sicherheitsgefühl geben konnten, das ihr wiederum den Verlust aller früherer Annehmlichkeiten und Freunde nachrangig und die Anstrengung, sich in einem fremden Land mit fremder Sprache einleben zu müssen, erträglich erscheinen ließ.
Neben dem Vater und Judith selbst, ist ihr Bruder Michael Kerr ein wichtiger Zeuge, der zwei Jahre älter als Judith, in seinen Memoiren von Beginn an weit schmerzlicher als sie die Verluste erlebte, wiewohl er sich schneller anzupassen wusste und nach kurzer Zeit in Frankreich sein zweites Schuljahr sogar mit Auszeichnung absolvierte. Nur dank ihm erfährt der Leser auch mehr über Julia Kerr geb. Weißmann, die als talentierte Komponistin während des 12-jährigen Exils an dem Zurückgeworfen-Sein auf die Rollen als Mutter und eher untalentierte Hausfrau litt und mehrere Selbsttötungsversuche unternahm.
Natürlich bildet "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl" die bestimmende Vorlage, an der für die Familie Kerr die Wirklichkeit jener Jahre des Exils überprüft wurde. Vieles stimmt hier mit der Realität überein, manches wurde hier von Judith Kerr, wie für einen Roman üblich, der sich zudem von vorneherein an Kinder, nicht zuletzt an ihre eigenen Kinder wenden sollte, zugespitzt und verdichtet. In jedem Fall bildet er aber eine außergewöhnliche Lebensbejahung als Kernwahrheit ab, die bei Judith Kerr bis zu ihrem Tod spürbar bleiben sollte. Und das obwohl (oder gerade, weil) Judith Kerr eine genaue Beobachterin und Erkennerin des Schönen war. Und schon lange vor ihrem weltberühmten Kinderroman, dem noch zwei weitere gefolgt sind, und auch danach sah sich Judith Kerr vor allem als Bildende Künstlerin, die das Gesehene malen und zeichnen wollte. Ihre von ihr selbst illustrierten Bilderbücher, darunter "Ein Tiger kommt zum Tee" oder ihre Geschichten vom "Kater Mog" hatten schon vor Erscheinen ihrer Romane das Zeug zum Kinderbuchklassiker.
1954 heiratete sie Thomas Nigel Kneale, der damals bereits u.a. als "The first significant television dramatist" der BBC bekannt war. Anfangs arbeitete sie mit ihm auch gemeinsam für die BBC und hatte mit ihm dann zwei Kinder. Die Tochter Tacy Kneal ist Schauspielerin geworden und gestaltete nach einem Kunststudium u.a. auch Figuren für die ersten vier Harry-Potter-Verfilmungen, der Sohn Matthew Kneale wiederum ist ein mehrfach ausgezeichneter Schriftsteller.
Alle vier Teile, also nicht nur die per se spannungsreichen Exiljahre, zeigen Judith Kerrs Leben als ein ständiges und auch im Alter nicht nachlassendes Fortschreiten, das die Leserschaft bis zur letzten Seite am Ball bleiben lässt.
Die Darstellung dieses Lebens einer außergewöhnlichen Frau und ihrer ebenso außergewöhnlichen Familie ist Astrid van Nahl vorzüglich gelungen!