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Hegesias hat als Forscher Kreta durchwandert. In einem Brief an seinen Freund Timagenes berichtet er hiervon und verweist zugleich auf eine dem Brief beigelegte ausführliche Erzählung. Darin sucht er, der weder die alten Götter ehrt noch in Dämonen mehr als Hirngespinste sieht, einen von den Bauern der Umgegend "Agathodämon" genannten "guten Geist" zu entlarven. Doch als Hegesias ihm begegnet, unterliegt er augenblicklich seinem Zauber, der sich nicht zuletzt aus dessen Weisheit speist. Denn der "Agathodämon" ist niemand anders als der legendenumwobene Apollonios von Tyana. Von den einen verehrt als wundertätiger Heilsbringer, bei den anderen als Scharlatan verschrien, vertraut der inzwischen 96-jährige und nun sehr zurückgezogen lebende Apollonios dem Hegesias seine Lebensgeschichte an.
Christoph Martin Wieland (1733 - 1813) legte 1799 den "Agathodämon" als 32. Band seiner dank des Göschen Verlages aufwendig gestalteten "Sämmtlichen Werke" im Erstdruck und zugleich endgültiger Fassung vor. Nach seiner eigenen Einschätzung vollendete er damit "in mehr als einer Rücksicht" das wichtigste und beste seiner Werke.
Doch weh dem Rezensenten, der mit der von Jan Philipp Reemtsma sowie Hans und Johanna Radspieler verantworteter ambitionierten Neuausgabe des "Agathodämon" das erste Werk Wielands in Händen gehalten hat - immerhin soviel darf er vorweg schon sagen: Dieser "Agathodämon" ist voller Überraschungen und kann sich noch heute auf höchstem Niveau mit so manch anderer Literatur messen!
Ihn jedoch als "Roman" zu bezeichnen, ist von seiner Anlage her kaum noch nachzuvollziehen. Die schmal gehaltene Rahmenhandlung, die immerhin mehr als ausreichend ist, um sich auf die zeitlichen wie räumlichen Begleitumstände des Diskurses zwischen Apollonios und Hegesias einzustimmen und überhaupt den Anstoß für die Erzählung liefert, neigt vielmehr einer Novelle zu. Romanhaft höchstens die zitierten Betrachtungen und anekdotischen Episoden des fiktiven Damis von Philostratos aus Lemnos, der diesen einst zum Hauptzeugen für die Legenden um Apollonios gemacht hat. Doch das Eigentliche und Strukturgebende dieses Werkes gemahnt am ehesten an die Tuskulinischen Gespräche Ciceros oder an die Sokratischen Meisterdialoge Platons - und ist damit weit fesselnder als so mancher Roman jedweder Epoche.
Apollonios wurde von Wieland zu Apollonius latinisiert. Die Dialoge zwischen ihm und Hegesias, der auch zu den eingeschobenen Gesprächen mit dem Apollonius in Treue verbundenen "Freigelassenen" Kymon kaum mehr als Stichworte beisteuert, setzen bei der allgemeinen Leichtgläubigkeit und dem Aberglauben der Menschen an. Dieser Allgemeinheit geben oft allein die eigenen Wünsche und Ängste vor, was sie dann "tatsächlich" zu sehen meint. Dies wiederum zu durchschauen unterscheidet den Mündigen vom Unmündigen. Dennoch seien Religionen davon abzugrenzen und per se nicht zu verachten, denn deren Bildersprache und die Sehnsucht danach ließen sich nutzen, um zu einer Besserung der Lebensumstände von Menschen insgesamt beizutragen. Die eigenen Erfahrungen bezieht Apollonius aus pythagoreischen Sekten, von denen er später sogar selber eine sehr einflussreiche gründet. Mit ihr habe er sogar die Ablösung des tyrannischen Domitian durch die ihm nachfolgenden römischen Kaiser Nerva und Trajan voranzutreiben vermocht. Seine eigenen Erfolge schätzt Apollonius dennoch nicht so hoch ein, wie die eines gewissen Jesus aus Nazareth. Und dies obwohl Apollonius vorausahnt, dass es zu Kirchengründungen der "Christianer" kommen wird, die nicht nur sich gegenseitig, sondern auch Andersgläubige bekriegen werden ...
Nicht nur diesen "Kniff", der Vorausschau des Apollonius eigene kritische Bedenken an den Kirchen seiner Gegenwart und die daraus resultierende Schlussfolgerungen für eine darüber hinaus gehende Zukunft in den Mund zu legen, setzt Wieland sehr überzeugend und mit großer Eleganz in Szene. So gelingt ihm eine sehr heutig wirkende Metabetrachtung, der die Amt- und Würdenträger der verschiedenen Religionsgemeinschaften nach wie vor so manches an selbstkritischer Erkenntnis abgewinnen könnten. Und auch die Religions- und Kirchenkritiker fänden hier so manches, was ihrer wohlfeilen Schwarzweißmalerei sehr schlüssig entgegengesetzt wird. Denn Rationalität und Religion müssen nach Apollonius kein Widerspruch sein.
Ein anregendes, ein Horizont erweiterndes Buch, das auf Grundlage der seinerzeit am sorgfältigsten korrigierten "Fürstenausgabe" nun wieder in einer sehr schönen Ausstattung vorliegt, dem in weiteren Auflagen aber noch ein Lesebändchen angefügt werden sollte. Denn neben dem sehr instruktiven Vorwort von Jan Philipp Reemtsma ist am Ende noch ein Anhang mit ebenso anschaulichen Hinweisen von Hans Radspieler zu "Entstehung, Drucke, Textgestaltung" des Werks sowie zwei Glossare "Zu einzelnen Textstellen" und "Namen und Begriffe" nachzulesen.