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Kai Wieland

Amerika

Roman. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2018. 240 Seiten. 20,00 Euro. ISBN: 978-3-608-96261-1, >>> Amazon
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Der "Schippen" im schwäbischen Rillingsbach hatte es vor dem Krieg zum Drei-Sterne-Hotel gebracht. Aber im Verlauf der Zeit war Rillingsbach kein Ausflugsziel mehr, und das Hotel ging der Sterne verlustig. Seither betreibt Martha als letzte ihrer Familie nur noch im Erdgeschoss eine Kneipe, vor Ort "Boitze" genannt. Noch, denn auch die 20 Häuser des Straßendorfs sind bereits zum Teil verweist, und die Mittsechzigerin "Hilde, die Wilde" ist die jüngste ihrer drei verbliebenen Stammgäste. Eines Tages stößt nun ein junger Chronist in diese Runde und befragt sie nach ihren Erinnerungen. Doch selbst wenn ein Ereignis als solches von keinem bestritten wird, so ist der Blickwinkel darauf immer sehr unterschiedlich und lässt noch Jahrzehnte später den einen oder anderen in Rage geraten …
Der Debütroman "Amerika" von Kai Wieland, Jahrgang 1989, war als eines von 245 Manuskripten unter den drei Finalisten des Preises der Literaturblogger 2017, kurz "Blogbuster" genannt, und wurde mit seiner Veröffentlichung im Klett-Cotta-Verlag gewürdigt. Auf dem Klappentext lässt sich Denis Scheck als eines der Jury-Mitglieder zitieren mit: "Ein eigener Ton, eine eigene Weltsicht, ein schwäbischer William Faulkner, der zur Entdeckung einlädt."
Offenbar hat ihm der Roman also gefallen, und da mag eine derartige positive Zuspitzung mit dem Namedropping eines William Faulkner legitim sein, der u.a. für die "Bewusstseinsstrom" genannte Erzähltechnik bekannt war, die laut Wikipedia "die scheinbar ungeordnete Folge der Bewusstseinsinhalte einer oder mehrerer Figuren wiedergibt".
Wieland wendet diese Erzähltechnik durchaus geschickt an, und zieht einen mit ihr über spärliche Dialoge hinweg in die Gedanken- und Erlebniswelten der, zählt man den Chronisten dazu, fünf Protagonisten, die sich im "Schippen" versammelt haben. (Im Übrigen entstammen einige der den Kapiteln vorangestellten Motti ebenfalls der Wikipedia.)
"Spärliche Dialoge" bezieht sich auf das, was Hilde, Alfred, Frieder und die Wirtin Martha gleich mehr verdeckenden als enthüllenden Überschriften ihrer Geschichten von sich geben. Nur an einer Stelle in den Erinnerungen von Hilde etwas umfänglicher, spreizen sie sich allerdings ins arg Gewollte und damit Überdeutliche, zuweilen auch unfreiwillig Komische. Das fällt auch deshalb unangenehm auf, weil Wieland ansonsten eine klassischen Erzählern entlehnte Sprachregelung nutzt, die sich eingängig eines breiten Wortschatzes zu bedienen weiß und damit als weiteres Ingredienz einen bis zur letzten Seite am Ball bleiben lässt.
Was die "Weltsicht" des bis dato noch immer unter 30-jährigen Autors und damit auch den Inhalt bzw. den Kern seines unweit seines Geburtsortes Backnang im fiktiven Rillingsbach spielenden Romans angeht, beschränkt sie sich auf die Erkenntnis, dass selbst unter Jahrzehnte alten Bekanntschaften nicht alles ausgetauscht wird, ja selbst eigene Erinnerungen nicht selten trügen und demzufolge nicht alles so ist, wie es scheint. Anstatt diese Erkenntnis aber nun in einem von Gleichaltrigen getragenen Plot durchzudeklinieren, setzt er mit dem unverstelltem Blick seines "jungen Chronisten" ein, zwei Generationen vorher an - und führt dabei den Leser schon bald in die Irre: Ganz zu Anfang denkt man, der Roman spielt Ende der 1990er, später schlingern die "Gegenwart" bzw. die Angaben von Daten ohne angezeigten Zeitensprung ungefähr ins Jahr 2010, wonach Hilde etwa 60, und alle anderen schon gut in den 70ern sind.
Wie sehr nun Alfred, als der älteste unter ihnen, Opportunist oder Frieders Vater strammer Nazi waren und (dennoch) auch menschliche Attitüden hatten, wie gern und warum die beiden Frauen Martha und Hilde lieber wo ganz anders was ganz Anderes gemacht hätten und was damit nun das Titelgebende "Amerika" u.a. in Form der einmarschierten Amerikaner zum Kriegsende zu tun haben, und inwieweit hier Erinnerungen korrekt oder vor und für sich selber verfälscht wiedergegeben werden - nun ja, das hat eine gewisse Binnendramatik. Den stärksten Eindruck hinterlässt hier, weil von gut ausgespielter Absurdität, der Rückblick Alfreds auf seine Hochzeitsreise, bei der er seine Frau rücksichtslos durch die USA an die Orte seiner ermordeten Helden wie Martin Luther King quälte.
Aber spätestens am Ende der Lektüre kommt man ins Grübeln, ob sie sich gelohnt hat. Denn der Chronist, der dann und wann mit sich hadert, ob er bei seinen Beobachten wertfrei geblieben ist, erweist sich als ausgelagertes auktoriales Erzähler-Ich, das bis zuletzt reinweg nach Papier schmeckt. So wird nirgends geklärt, warum und wozu er, der mit dem Ort und seinen Bewohnern angeblich vorher und nachher nichts zu tun hat(te), sich überhaupt an einer derartigen Chronik versucht - es fehlt schlicht ein Erzählgrund. Die auf ihn bezogene Schlusssentenz, wonach es für ihn "ein wenig sei, als habe er das Dorf nackt gesehen und schämte sich nun dafür", entbehrt jeder Logik, außer er bezöge sich damit auf das vielschichtige Phänomen des Erinnerns an sich - aber dann hätte er nicht nur ein Dorf, sondern die ganze Welt, einschließlich seiner Person nackt gesehen, und was hätte da die Scham noch zu suchen …
Nichtsdestotrotz soll Kai Wieland auch hier Talent bescheinigt werden, und dieser Roman als Etüde mit dem Nachweis einiger Fertigkeiten auf dem Weg zum Autor zumindest soviel Geltung haben, als dass unsereins immerhin neugierig auf sein nächstes Werk ist.

Buechernachlese © Ulrich Karger


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