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Der Journalist, Romanautor, Religionsphilosoph und Friedensnobelpreisträger
Elie Wiesel hat eine Autobiographie verfaßt. Jahrgang '28 und dem
"Trotzdem" verpflichtet, zählt er sich zu einer Generation,
die "von der Aufgabe besessen ist, alles festzuhalten, alles weiterzugeben".
Als 16-jähriger wurde er mit seiner Familie nach Auschwitz deportiert.
Neben vielen anderen Verwandten kommen im KZ auch seine Eltern und die
jüngere Schwester um. Und trotzdem.
"Es geht nicht darum, meine Lebensgeschichte zu erzählen, sondern
die Geschichte meiner Geschichten.(..)Außerdem möchte ich Sie
gleich warnen: Ich werde durchaus einige Ereignisse übergehen, die
mein Privatleben und das anderer betreffen,(..), und im allgemeinen verzichte
ich darauf, über Dinge zu sprechen, die dem jüdischen Volk schaden
könnten." Und tatsächlich durchbricht E.W. das sonst für
Autobiographien übliche Nacheinander von Erlebnissen, auch wenn er
natürlich weit mehr als nur Hintergrundinformationen zum besseren
Verständnis seiner Werke nachreicht bzw. einige Mißverständisse
(z.B. Übersetzungsfehler) aufklärt. (Die Kenntnis seiner Werke
wird übrigens nicht vorausgesetzt, zitiert er daraus doch allenthalben
die für ihn wesentlichen Abschnitte.)
Die Überschriften der zehn
Kapitel zeichnen zwar in etwa die Chronologie seiner Lebensmittelpunkte
nach, aber in "Kindheit" z.B. sind neben den Erinnerungen an die
Kindheit eben u.a. auch Reflektionen auf die Ausgestaltung der Protagonisten
seiner Romane miteinbezogen, die nach Maßgabe dieser Lebensphase
ganz bestimmte Züge erhalten haben. So gesteht er eine relativ farblose
Ausgestaltung seiner weiblichen Charaktäre ein, obwohl er seiner Mutter
im wahrsten Sinne des Wortes lange Zeit heftig "anhing". In seinen
Träumen, die sich als Einschübe in allen Kapiteln finden, ist
es aber vor allem der Vater, der ihm immer wieder schweigende Botschaften
sendet. Oder die kleine Schwester. Beide verklärt er, ist sich dieser
Verklärung z.T. durchaus selbstironisch bewußt, kann und will
dieser Verklärung aber auch nicht Einhalt gebieten. Was den Vater
betrifft, wird er auch durch die jüdische Denktradition verstärkt,
die verlangt, den Spuren der "Väter und Vorväter zu folgen".Anschließend die Kapitel "Finsternis", worin er dem jugendlichen
E.W. beim Einmarsch der Deutschen eine krude "Romantik des Schreckens"anlastet, und "Der leidende Gott - Ein Kommentar". In letzterem
setzt E.W. uns auf knapp vier Seiten sein Glaubensbekenntnis nach Auschwitz
auseinander. "Es gibt keinen Ort, der frei von Gott ist". Demnach
mußte Gott in Auschwitz mit-leiden. Aber: "Wie hat Gott es fertiggebracht,
Sein Leiden und zudem das unsere auszuhalten? Müssen wir davon ausgehen,
daß das eine zur Rechtfertigung des anderen dient? Sicher nicht.
Nichts kann Auschwitz rechtfertigen. Und wenn Gott selbst mir eine Rechtfertigung
anböte, ich würde sie, glaube ich, zurückweisen. Treblinka
hat alle Rechtfertigungen außer Kraft gesetzt. Und alle Antworten."Das "Übergehen einiger Ereignisse" s.o. meint denn auch
das resignierend respektvolle Schweigen vor den Zu- und Auslassungen eines
Gottes, der doch trotzdem oder eben deswegen so sehr in der Mitte des eigenen
Lebens steht.
E.W. sucht schließlich als gläubiger Jude immer
wieder das (Lehr-)Gespräch. Er trifft dabei auf so ausgezeichnete
und unterschiedliche Vertreter seines Glaubens wie den Rationalisten Saul
Liebermann, den Mystiker Gershom Scholem sowie die Chassiden Abraham Joshua
Heschel und Rabbi Schneersohn von Lubawitsch, der kurz vor seinem Tod 1994
noch beinahe zum Messias gekrönt worden wäre. Die Anfragen, das
sich Entfernen und wieder Annähern an den Glauben, verbunden mit seinen
(manchmal enttäuschten) Hoffnungen an den Staat Israel, und die z.T.
noch heute andauernde Mißachtung jüdischer KZ-Opfer werden zu
den zentralen Themen seines Lebens. Kapitel wie "Lehrjahre", "Journalist",
"Reisen" und "Schreiben" behandeln aber auch durchaus anektdotenreich
den beruflichen Werdegang des nun in Boston dozierenden Professoren, der
lange Zeit seine Schüchternheit gegenüber Frauen als größtes
Handikap empfand. Er heiratete denn auch relativ spät. Und natürlich:
Auch die Begegnungen mit solch zeitgeschichtlichen Größen wie
Ben Gurion, Golda Meir und Konrad Adenauer finden ihren Niederschlag. E.Ws.
Konzept läßt den Hauptstrang dieser Autobiographie allerdings
bereits mit der Hochzeit 1969 in Jerusalem enden und die Gegenwart nur
in rückbezüglichen Nebenexkursen streifen. Diese Zeitsprünge
sind zumeist herausfordernd kunstvoll, zuweilen aber auch irritierend.
So bleibt im Zusammenhang mit seiner Gegnerschaft zur bundesdeutschen Wiedergutmachung
1952 unklar, ob er die Rettung Jasir Arafats aus Tripolis 1983 auf einem
von der Wiedergutmachung finanzierten Luxusliner nun bedauert oder nicht.
Davon abgesehen ist diese Arbeit Elie Wiesels jedoch im besten Sinne aufregend.
"Denn wenn ich etwas gelernt habe im Leben, dann ist es das Mißtrauen
gegenüber der Bequemlichkeit des Geistes."