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Auf Marcel Reich-Ranicki als Gegenstand einer Biographie erst neugierig zu machen, erübrigt sich. Nachdem er 13 Jahre lang im Fernsehen das "Literarische Quartett" dominierte und auch mit seiner Autobiographie "Mein Leben" bislang anderthalb Millionen Leser erreicht hat, verlangt es schon jeglicher Verweigerung des Trends zum Zweitbuch, um nicht zumindest das gern karikierte rollende "R" des als "Literaturpapst" apostrophierten Kritikers im Gehörgang zu haben.
Warum also nach dessen erfolgreicher Autobiographie noch eine Biographie nachschieben? Ganz einfach: Weil Interesse daran besteht und es nicht nur in ökonomischer Hinsicht Sinn macht. Neutral und nüchtern kann bei dem Polarisierer Marcel Reich-Ranicki zwar keiner bleiben, aber Uwe Wittstock legt trotz und gerade wegen seiner offenkundigen Sympathie für Marcel Reich-Ranicki sehr instruktiv auch das Fragwürdige an dessen Medienpräsenz offen. Fragwürdig keinesfalls in dem Sinne, ob er diese Medienpräsenz zu Unrecht erlangt hätte, sondern weil der Furor und die Ausschließlichkeit, mit dem Marcel Reich-Ranicki sich für Bücher und Autoren einsetzt, so über alle Maßen zu gehen scheint. Schön dumm, hätte Wittstock dessen erstaunlich offenherzige Autobiographie nicht als Hauptquelle und Leitfaden für seine Fragen genutzt, aber Antworten suchte er auch durchaus woanders.
So fand er Zeugen für die Zeit im Warschauer Ghetto, die auch eine erhellende Sicht von außen auf Reich-Ranickis Tätigkeit für den "Judenrat" erlaubt. Ebenso wird seine Arbeit für den polnischen Geheimdienst ins rechte Licht gerückt. Reich-Ranickis sehr unterschiedliche Sicht auf Vater und Mutter wird als genauso lebensbestimmend herausgearbeitet, wie sein unermüdliches, bei näherer Betrachtung so anrührend wie verständliches Werben um Anerkennung, das nun mit bald 85 Jahren in dem Wunsch nach Versöhnung mit einstigen Kontrahenten mündet. In diesem Zusammenhang werden dann auch die Hintergründe um das Ende der jahrzehntelangen Freundschaft mit Walter Jens erläutert, die seit 2004 wieder einen neuen Anfang gefunden hat. Leitmotivisch zieht sich die Fähigkeit Reich-Ranickis durch, ohne zu Zaudern und ohne Rücksicht auf jedwede Gefühle zu oder von einem Autor dessen Buch zu beurteilen, die wiederum mit dem nur scheinbar bizarr anmutendem Wunsch nach Gemochtwerden auch durch einen gerade verrissenen Autor korrespondiert. Das wirkt nach innen wie nach außen - das Gefühl der Ablehnung und Ausgrenzung findet so über 1945 hinaus bis in die Gegenwart immer wieder traurig groteske, nur zum geringen Teil ungerechtfertigte Anlässe. So auch der zeitlich nach der Autobiographie veröffentlichte Roman "Tod eines Kritikers" von Martin Walser, der darin laut Wittstock die mit Reich-Ranicki assoziierte Figur des Ehrl-Königs als "ein jüdisches Monster" auftreten lässt und damit "viele typische judenfeindliche Ressentiments bedient". Aber Wittstock nennt auch andere Rezensenten, die das Buch anders als er bewerten.
Denn es bleibt natürlich ebenso wahr, dass Reich-Ranicki ein bis heute ein unangefochtener Platzhirsch unter den "Großkritikern" ist, der sich schon frühzeitig als sehr medienkompatibel erwiesen hat, ja, geradezu zum sprichwörtlichen Synonym eines Literaturkritikers wurde. Neben Walser haben sich viele, eigentlich alle deutschsprachigen "Großschriftsteller" an ihm abgearbeitet und wurden wie Günter Grass auch direkt für dieses Buch befragt.
Wer Marcel Reich-Ranicki als ein Original personifizierter Literaturgeschichte lieben und wertschätzen gelernt hat, wird diese Biographie jedenfalls mit Gewinn als lohnende Ergänzung seiner Autobiographie lesen.