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Corwin wacht in einer New Yorker Klinik auf und soll gleich wieder betäubt werden. Bevor es soweit kommt, kann er fliehen. Nun muss er sich nur noch erinnern, wer er ist. Nach und nach findet er heraus, dass er als einer von mehreren Geschwistern dem Königshaus von Amber angehört und das New York der 1970er auf dem Planeten Erde lediglich eine von zig Schattenwelten ist, in die ein Prinz von Amber zu reisen vermag. Zu dieser Fähigkeit kommen noch einige sehr ungewöhnliche Kräfte hinzu, wie die zur schnellen Selbstheilung von Verletzungen. Die braucht Corwin auch, da in seiner Familie jeder gegen jeden kämpft, ist doch der Thron von Amber seit dem Verschwinden von König Oberon vakant. Und je mehr sich Corwin erinnert, umso mehr findet auch er, dass er ein würdiger Nachfolger wäre …
"Die Chroniken von Amber" sind eine in zwei Zyklen à fünf Bänden aufgeteilte Romanserie von Roger Zelazny. Der erste Zyklus um Corvin von Amber erschien im Original zwischen 1970 und 1978, dessen deutsche Übersetzung von Thomas Schlück zwischen 1977 und 1981. Für die nun vorliegende Neuausgabe in der Hobbit Presse wurde der Zyklus von Thomas Schlück "vollständig überarbeitet".
Im Zentrum der Romane steht eine Welt namens Amber, um die sich wiederum "Schatten" gruppieren, d.h. Duplikate von Amber, die jedoch mit zunehmender Entfernung immer mehr vom "Original" abweichen.
Zu Beginn des ersten Bandes lernt Corwin, sich an noch acht Brüder und vier Schwestern zu erinnern, die König Oberon im Laufe vieler Jahrhunderte mit verschiedenen Frauen gezeugt hat. Doch der Ausspruch "Ich liebe Dich wie einen Bruder!" ist eine Drohung. Die Intrigen und Machtspiele zwischen den Geschwistern lassen die Auseinandersetzungen in einstigen Fernsehserien wie "Dallas" oder "Denver Clan" wie harmlose Sandkastenkabbeleien wirken.
Paradoxerweise ist gerade der erste Band trotz seines fulminanten Einstiegs mit der Flucht Corwins aus einem Krankenhaus der schwächste. Die Sprache wie auch der Plot wirken hölzern, d.h. die immer gerade im richtigen Moment Corwin zur Verfügung stehenden Mittel scheinen (noch) wie von einem deus ex machina gestreut und somit ohne jede dramatische Funktion. Geringfügig dagegen, dass mit keinem Wort z.B. in einer Fußnote oder in einem Vorwort darauf hingewiesen wird, dass die Abschnitte in der "Gegenwart" auf der uns vertrauten Erde analog zum Erscheinen der Originalbände in den 1970ern spielt und z.B. noch bar jedweder digitalen Technik ist. Erst ab dem zweiten Band zieht die Spannung an, dafür aber erheblich - nicht nur weil im Wortsinn Phantastisches passiert, sondern eine innere Plausibilität nachvollziehbar wird. So entwickelt sich ein Verständnis für Amber als ein Ganzes, das nicht weniger als ein höchst komplexes System von Parallelwelten meint. Jetzt gelingt es auch, den Leser unwiderstehlich in diese Welt(en) hineinzuziehen, die gleich einem gigantischen Spielfeld engen Regeln unterworfen, auch den gottähnlichen Möglichkeiten der Protagonisten Grenzen setzen und für eine angemessene Balance sorgen. Bedeutsam ist hierfür nicht zuletzt, was Zelazny bereits in den 1970ern an psychologischen Erkenntnissen einzubauen und anzusprechen versteht. So heißt es etwa im dritten Band nicht von ungefähr: "Man kann behaupten, (..) dass wir die von uns besuchten Schatten aus dem Stoff unserer eigenen Psyche schaffen, dass nur wir wirklich existieren, dass die Schatten, die wir durchqueren, lediglich Projektionen unserer Sehnsüchte sind …"
Und diese Erkenntnis schlägt in den letzten beiden Bänden dann noch einige kräftige Volten. Dabei treten zuweilen auch wohl heute noch wirksame Unterschiede zwischen US-amerikanischen und europäischen, insbesondere deutschen Schlussfolgerungen für (Straf-)Taten zutage, wenn Corvin z.B. im vierten Band nach einem Kampf mit einem seiner Brüder resümiert: "Es gibt immer einen Grund. (..) Tut jemand etwas wirklich Gemeines, hat er einen Grund. Man kann diesem Grund nachgehen, wenn man will, und dann erfahren, warum der Betreffende ein solcher Schweinehund geworden ist. Doch es ist allein die Tat, die zählt. (..) Taten und ihre Folgen - danach werden wir von unseren Mitmenschen beurteilt. Alles andere verschafft einem bloß ein Gefühl moralischer Überlegenheit, indem man sich vorstellt, man selbst hätte doch etwas Netteres als der andere getan. Diese Dinge konnten ruhig dem Himmel überlassen werden. Ich fühlte mich nicht zuständig." Für Resozialisierung scheint da wenig Platz zu sein, aber hier geht es auch eher um einen existentiellen Krieg, als um eine Auseinandersetzung vor Gericht …
Im Finale kommt es zum Kampf um die Balance zwischen den "geordneten" Amber- und den Chaoswelten. Parallel dazu geht es um die Auflösung eines Vater-Sohn-Verhältnisses und Corvins eigenes Rollenverständnis. Wie hier psychologische und auch durchaus philosophische Fragen in phantastische Welten verankert werden, gemahnt zuweilen an die Beschreibung von LSD-Trips - was ihrem Reiz aber keinen Abbruch tut.
Auch wenn der erste Band nach Maßgabe heutiger Lesegewohnheiten eine Geduld verlangende Hürde darstellt, ist dieser Amber-Zyklus insgesamt als das Werk von einem der seinerzeit besten SF-Autoren und Vertreter des New Wave nach wie vor lesenswert und lohnt allemal eine Neu- oder Wiederentdeckung.