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Theo, vierzehn Jahre alt, ist enorm gewachsen aber von zarter Konstitution.
Gerade seit seinen letzten Wachstumsschüben leidet er an seltsamen
Schwächezuständen. Bisher hatte ihn das aber nicht gehindert,
Sport zu treiben, Freundschaften zu pflegen - insbesondere mit seiner senegalesischen
Freundin Fatou - und in der Schule stets der Klassenbeste zu sein. War
Theo allein, verschlang er entweder Bücher oder beschäftigte
sich mit anspruchsvollen Computerspielen. Ein "kleines Genie" also,
das in letzter Zeit vorzugsweise ägyptische Totenkulte interessiert
und am PC als junger Held allem begegnet, was das antike Griechenland an
Ungeheuern zu bieten hat.
Eines Tages bricht Theo im Badezimmer ohnmächtig zusammen. Die
anschließenden ärztlichen Untersuchungsergebnisse sind niederschmetternd.
Auf seine Nachfragen erhält Theo nur ausweichende Antworten. Er ahnt
jedoch, daß er vermutlich nicht mehr lange leben wird. Da kommt unverhofft
Tante Marthe zu Besuch, eine etwas schrullige und zugleich sehr vermögende
Witwe. Sie lädt Theo zu einer Weltreise ein. Es sollen dabei Heiler
aufgesucht werden, die die Schulmedizin zwar nicht sonderlich ernstnimmt,
nichtsdestotrotz aber durchaus erfolgreich sind. Mit dem Versprechen, daß
Theo unterwegs auch regelmäßig in konventionellen Krankenhäusern
untersucht wird, darf er die Einladung einnehmen. Es beginnt eine Reise,
bei der Theo auf viele ranghohe Vertreter verschiedener Religionen trifft
und dabei nicht zuletzt dank seiner ausdauernden "Frageritis" immer
mehr zu sich und dem bis dato vor ihm verheimlichten toten Zwilling findet.
Die als Anekdote im Vorwort gehandelte Eröffnung, daß der
französische Verleger Claude Cherki eigentlich nur einen Anschluß-Bestseller
für 'Sophies Welt' suchte, ist zwar ziemlich dreist, aber der Philosophin,
Anthropologin, Romanautorin und Weltreisenden Catherine Clément
ist die Auftragsarbeit derart gut gelungen, daß sie in Frankreich
bereits auf große Resonanz stieß.
Neben den unterschiedlichen Ausformungen von Judentum, Christentum
und Islam lernt Theo den Buddhismus, den Hinduismus, den Konfuzianismus,
den Shintoismus, den Taoismus und den Armana-Kult kennen. Catherine Clément
nutzte die Chance des Themas und führt die Religionen nicht als abstrakte
Theoreme vor, sondern in Gestalt bekennender Individuen. Diese laden zu
anschaulich geschilderten Riten an ebenso plastisch beschriebenen Kultorten
in ihren Heimatländern ein. Bei aller Unterschiedlichkeit haben diese
Gläubigen eins gemein: Als Freunde von Tante Marthe sind sie allesamt
tolerant gegenüber Anders- und Nichtgläubigen. Da sie zum Teil
auch noch untereinander bekannt sind und beim Zusammentreffen keine Stichelei
gegeneinander auslassen, werden die "unvereinbaren" Positionen genauso
deutlich wie die vielen überraschenden Gemeinsamkeiten. Überhaupt
hat die Autorin ihren Handlungsträgern eine "Menge Fleisch"
mit auf den Weg gegeben und sie so zu spannungsreichen Personen entwickelt.
Das gleicht dann auch die geradezu märchenhafte Fassade der Familie
Fournay aus, die in ihrer Wohlhabenheit und ihrem liebevollem Miteinander
erstmal nicht ganz von dieser Welt zu sein scheinen. Gekonnt und realitätsnah
auch der Einstieg: Die Eltern "bewußt" areligiös, wird
erst in der Ausweglosigkeit die Religion zum letzten Strohhalm. Selbst
Tante Marthe erweist sich bald als antiklerikale und kritische Agnostikerin,
die eigentlich nur gewisse Übungen für nachvollziehenswert hält.
Theo dagegen findet in jugendlicher Unbefangenheit immer leichter Zugang
zu den spirituellen Wegen der Religionen. Bei aller Wertschätzung
dieser Erfahrungen empört er sich jedoch ebenfalls über die fanatisierenden
Auswüchse, vor denen keine Religionsgemeinschaft gefeit zu sein scheint.
Am Ende ist er dem "Göttlichen" auf der Spur, ohne sich schon
auf einen Weg festlegen zu lassen.
Angst vor Indoktrination oder der Bevorzugung eines Glaubens muß
man bei der Lektüre dieses Buches nicht haben. Andererseits geht das
Buch weit über eine distanzierte religionskundliche Erhebung hinaus,
unterstreicht es doch auf jeder Seite den Wert religiöser Fragestellungen.
Reizvoll hierbei auch der zuweilen spürbar französische Blickwinkel:
Das eventuelle Befremden hinterfragt da ganz von selbst gedankenlose Gleichsetzungen
von Herkunft und Religionszugehörigkeit. (Von wegen: Alle Türken
sind Moslems...)
Das umfangreiche Stichwortregister im Anhang erlaubt auch das gezielte
Nachschlagen von Themen und Begriffen.
Ähnlich wie 'Sophies Welt' ist dieses Werk auszugsweise im Unterricht
Jugendlichen ab 13 Jahren, zum Selberlesen frühestens ab 16 Jahren
zu empfehlen.
Weitere Besprechungen zu Werken von Catherine Clément siehe:
Catherine Clément: Theos Reise (1998)
Catherine Clément: Theos zweite Reise (2006)