www.buechernachlese.de
|
In den 80ern wird eine Vorstadtsiedlung errichtet. Scheinbar ideal für Familien mit kleinen Kindern, wird sie bald zum goldenen Käfig für Frauen, die Tag für Tag auf die Rückkehr ihrer Männer von der Arbeit warten. Die vielen, nahezu gleichaltrigen Kindern gewinnen ihrer Umgebung aber vorerst ein Paradies ab. Und das Mädchen Loes ist ihre Anführerin. Sie lebt in einem unkonventionellen Haushalt, dem ihre Mutter als Kinderbuchillustratorin vorsteht und der gleich von zwei Männern mitgetragen wird. Keiner von beiden weiß, wer der Vater von Loes ist, aber beide lieben sie und ihre Mutter. Die anderen Kinder sind jederzeit willkommen, dürfen hier vieles, was ihnen im eigenen Zuhause verwehrt ist, und Loes hat stets einen Sack voller Spielideen parat. Selbst als Loes im ersten Schuljahr Leseschwächen offenbart, kratzt das nur wenig an ihrer herausragenden Stellung unter den Kindern. Doch dann wird dem Vater des besten Freundes ein roter Buntstift ins Auge gerammt und die Mutter von Loes wegen eines Totschlags verhaftet, den sie gar nicht begangen hat. Loes fällt tief und muss seitdem nicht nur mit ihren Schuldgefühlen, sondern auch als permanent gequälter Paria überleben lernen ...
Die niederländische Autorin Renate Dorrestein, die von sich selbst sagt, eine schöne Kindheit genossen zu haben, ist eine Meisterin im Durchmessen familiärer Abgründe, denen immer wieder und gerade die Kinder zum Opfer fallen. In "Das Erdbeerfeld" variiert sie die aus Sprachlosigkeit ins Hybride gewachsenen Missverständnisse zu einer Tragödie antiken Ausmaßes.
Die Kapitelüberschriften sind nach dem Alphabet aneinandergereiht und in drei Teile bzw. Lebensabschnitte der Heldin Loes geteilt, die in Vor- und Rückblicken ihr sechstes, zwölftes und achtzehntes Lebensjahr schildern.
Im ersten Teil erzählt die Kindergruppe in einem nüchternen "Wir", das furios an die kommentierenden Chöre altgriechischer Theaterstücke gemahnt und ein Szenario ausbreitet, das einem immer wieder den Atem raubt. Die kindliche Unschuld wird zum Fluch der Erinnyen: Die lang angestaute Eifersucht auf die Familie von Loes lässt die Mütter ihre Kinder antreiben, Skandale und Schmerzgrenzen dieser Familie auszuloten. Die Kinder richten ihr Augenmerk aber ausschließlich auf Loes. Immer hemmungsloser und brutaler. Und Loes schweigt. Und ihre Mutter schweigt. Und ihre Väter schweigen. Aus falsch verstandener Liebe und einem Vertrauen, das ohne Worte auskommen will.
In den beiden nachfolgenden Teilen wechselt die Perspektive und Loes erzählt, immer hellsichtiger und trotzdem konsequent vor der tieferen Einsicht zurückscheuend, was die Ursache für den Gefängnisaufenthalt ihrer Mutter angeht. Es ist wie in den Hitchcock-Klassikern, man möchte rufen: Rede endlich mit ihr oder hol dir woanders Hilfe! - und kann doch nur hilflos gebannt weiter lesen.
Am Ende klärt sich manches, was auch den Leser geschickt auf falsche Bahnen gelenkt hat. Kein Friede-Freude-Eierkuchen-Happy-End, aber ein erstes Durchbrechen der Schweigemauer.
Nicht zuletzt auch dank der herausragend einfühlsamen Übersetzung von Hanni Ehlers verdient dieser Roman hierzulande mindestens genauso eine Nachfrage wie in den Niederlanden, wo er bereits 80.000 mal verkauft wurde.
Weitere Besprechungen zu Werken von Renate Dorrestein siehe:
Renate Dorrestein: Was keiner sieht (1997)
Renate Dorrestein: Ein Herz von Stein (1999)
Renate Dorrestein: Das Erdbeerfeld (2003)