buechernachlese.de
|
Ralph Giordano ist immer wieder für eine Überraschung gut.
Als Kind war ein Foto von einer Landschaft in Ostpreußen zu seiner
Traumheimat, einer Art Phantasia geworden. Es dauerte 60 Jahre, bis er
sie zum ersten Mal aufsuchen konnte. Er blieb anderthalb Jahre und legt
nun ein Buch vor, daß sich hinter keines seiner vorherigen zu verstecken
braucht. Wie in "Israel, um Himmels willen, Israel" reiste er kreuz
und quer, befragte alle möglichen Stimmen zu der Befindlichkeit dieser
Region. Und die ist keineswegs einfach zu fassen, denn sie korrespondiert
auf eine tragische Weise mit dem "deutschen Wesen", das nur noch in der
Erinnerung gealterter Bewohner, Touristen und z.T. obskurer Vereine verhaftet
ist. OSTPREUSSEN ADE lautet der Titel, ohne Fragezeichen, aber auch ohne
das Ausrufungszeichen eines "Hab-ich's-doch-gewußt". Denn
Giordano lernt dieses Land lieben.
"Manche Stämme sind gekippt, ragen aus vermodertem Gestrüpp
mit abgebrochenen, aber immer noch mächtigen Zweigen krokodilhaft
über die Wasserfläche hin, wollen nicht ganz stürzen, wollen
nicht ersaufen, wehren sich zäh gegen die Schwerkraft."
Mit Kopf und Bauch will uns der Autor diese Landschaft nahebringen.
Das geschieht in erster Linie mit sauber von seinen Kommentaren abgehobenen
Statements oder lange für sich bewahrten Erinnerungen, die neben den
Details meist verräterisch von selektiver Wahrnehmung zehren. Es ist
immer nur das eigene, nicht wegzuleugnende Leid, das im Vordergrund steht,
nur selten die bittere Einsicht, daß dieses Leid die Folge einer
geduldeten oder aktiv unterstützten Aggressions-Politik von Nationalsozialisten
war. Dagegen immer wieder der Versuch aufzurechnen: die Grausamkeiten der
Nazis gegen die der Russen, Polen, Ukrainer ...
Es endet mit der Schilderung
bundesdeutscher Bemühungen, die darin gipfeln, diese Region mit Beratern
zu überschwemmen. Mit 400 DM und mehr täglich honoriert sind
sie jedoch weit ineffektiver, als wenn diese Summen den durchaus existierenden
integren Organisationen überwiesen würden, deren ehrenamtliche
Vorsitzende lediglich 100 DM Rente monatlich beziehen. Ralph Giordano gelang
ein Meisterwerk journalistisch-essayistischer Betrachtung, das einmal mehr
zur Versöhnung zwischen Vergangenheit und Zukunft aufruft. Letztere
ist allerdings ohne Nach-Denken und Vor-Sicht nicht zu haben.
Weitere Besprechungen zu Werken von Ralph Giordano siehe:
Ralph Giordano: Die zweite Schuld (1987)
Ralph Giordano: Ostpreussen ade (1994)