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Das passt einfach nicht zusammen: Wie kann draußen die Sonne aufgehen und alles zum Leuchten bringen, während im Schlafzimmer der Eltern die Mutter nicht mehr aufwacht? Aber es bleibt die unumstößliche Tatsache, dass der 14-jährige Ben und sein erst 6-jähriger Bruder Karl ohne Mutter weiterleben müssen. Weil Pa in seiner Trauer derart erstarrt, dass er sich nicht um die Kinder kümmern kann, ziehen Ben und Karl zu ihrer Tante Gerda. Karl alias "Krümel" findet als erster sehr eigene Wege, seiner Trauer Ausdruck zu verleihen und hält damit seine Familie, insbesondere Ben, ganz schön in Atem. Ben steht dagegen eher neben sich, er registriert zwar alles ganz genau und funktioniert auch noch als Hüter seines Bruders, aber sich und seine Gefühle lässt er erst mal außen vor. Er will möglichst schnell zurück in eine Normalität, die es so bald aber nicht geben kann - auch weil er seine Mutter immer wieder sieht und sie mit ihm spricht …
Für ihre beiden Vorgängerromane bereits mehrfach ausgezeichnet, u.a. jeweils mit einer Nominierung für den Deutschen Jugendliteraturpreis, versteht es Stefanie Höfler nach "Tanz der Tiefseequalle" auch in "Der große schwarze Vogel" ein keineswegs leichtes Thema gleichermaßen eingängig wie facettenreich in eine mitreißende Geschichte zu fassen. Erzählt wird sie durchgängig aus der Ich-Perspektive von Ben, dessen bereits angedeuteter Charakterzug zusammen mit seiner Neigung, gern Tiere insbesondere Vögel zu beobachten, dieser Funktion sehr viel Spielraum lässt. Neben der Schockstarre und Trauer der direkt Betroffenen sowie der mehr oder weniger großen Hilflosigkeit aller Anderen, mit einer solchen Trauer umzugehen, nimmt er auf sehr trockene Art auch Skurriles wahr. Unterstützt wird er in dieser Sichtweise von seiner Klassenkameradin Lina, die ihm zuvor mit seinem Selbstbild als Durchschnittsschüler immer unerreichbar schien. Doch sie hat einen Bruder, der schon seit Längerem "wie tot" im Koma liegt und kann deshalb aus eigener Erfahrung schon so Manches vorhersehen und einordnen, was Ben seit dem Tod seiner Mutter an Reaktionen erfährt.
Dank geschickt eingebauter Vor- und Rückblenden, die auch ein ganzes Jahr überspringen können, wechseln zu Herzen gehende Trauer, zu der auch Wut gehören kann, schlichte Alltagsbewältigung, Tröstliches und sogar Komisches einander ab und veranschaulichen so sehr treffend ein auch über den Tod hinausgehendes Auf und Ab, ohne dass ein platter Spruch wie "Die Zeit heilt alle Wunden" bemüht werden müsste. Und dies gilt nicht nur für Ben, sondern auch für Karl, Pa und Tante Gerda. Jedes Ereignis nach dem Tod der Mutter erscheint bedeutungsvoll aufgeladen, Distanzierung aus Verlegenheit wird durch unverhoffte Nähe erhellt, Verstörendes und Verwirrendes lösen sich am Ende in etwas Wunderbares auf und erlauben trotz des unwiederbringlichen Verlustes der Mutter neue Zuversicht.
So überzeugend wie unterhaltsam beeindruckt Stefanie Höfler hier einmal mehr mit einer preiswürdigen Glanzleistung.
Weitere Besprechungen zu Werken von Stefanie Höfler siehe:
Stefanie Höfler: Tanz der Tiefseequalle (2017)
Stefanie Höfler: Der große schwarze Vogel (2018)
Stefanie Höfler: Helsin Apelsin und der Spinner (2020)